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20.6. - 28.6.2005

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Nicht unantastbar

Als bei den Siegesfeiern in Moskau russisches Militär im Breschnew-Stil vor Präsident Putin aufmarschierte und führende Staatsmänner des Westens sich gut gelaunt die Show ansahen, lief manchem Zuschauer aus den einst von der Sowjetunion beherrschten Ländern ein kalter Schauder über den Rücken. Es war wie eine Reise zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn man aber eine Reise in eine unbewältigte Vergangenheit unternimmt, droht die Gefahr, daß sich nach der Rückkehr die Gegenwart etwas anders ausnimmt.

In ferner Vergangenheit war der Krieg als eine Lösung für Probleme verstanden worden, die mit den friedlichen Mitteln der Politik nicht gelöst werden konnten. Zu den Kriegszielen gehörte stets auch die Absicht, einen sichereren Frieden zu schaffen. Die Apokalypse des Zweiten Weltkrieges machte eine solche technokratische Auffassung des Krieges unmöglich, und dies nicht nur, weil die moderne Kriegführung den Unterschied zwischen Front und Hinterland, zwischen Soldaten und Zivilisten verwischte und ungeheuere Verluste an Menschenleben forderte. Der Zweite Weltkrieg wurde von einem verbrecherischen Regime entfesselt und mit einer zuvor nicht gekannten Brutalität geführt; die zielstrebige Ausrottung ganzer Teile der europäischen Bevölkerung läßt sich aus ihm nicht wegdenken. Wohl deshalb wurde er als ein Zusammenstoß der Kräfte des Heils mit den Kräften des Unheils aufgefaßt, die vernichtet werden mußten. Dann kam das internationale Gericht über die Kriegsverbrecher. Die UN als Vereinigung der demokratischen Mächte sollten politische und soziale Gerechtigkeit in der befreiten Welt schaffen.

Soweit die Legende. Die Wirklichkeit, betrachtet aus einem Abstand von sechzig Jahren, ist weniger übersichtlich. Die westlichen Demokratien, auch die Amerikaner, hatten Hitler lange unterschätzt. Um diesen Gegner zu überwinden, mußten sie sich mit einer rückständigen orientalischen Tyrannei verbinden, die Hitler ebenfalls überfallen hatte. Das Bündnis war logisch und notwendig, aber es war kein Bündnis der Prinzipien, sondern nur ein Bündnis der Interessen, was dem Westen und vor allem den Vereinigten Staaten auch unmittelbar nach Kriegsende noch nicht ganz klar war. Als Lohn für die Beteiligung am Krieg behielten die Russen, was sie militärisch besetzt hatten. Im Nürnberger Prozeß stellte sich zudem die Frage, ob die Rechtsauffassung der westlichen Demokratien tatsächlich mit jener der Sowjetunion vereinbar war. Sollte Recht gesprochen oder mit einem besiegten Gegner abgerechnet werden? Statt an eine Vereinigung der demokratischen Kräfte erinnerten die UN bald an das Orwellsche Gasthaus, in dem der Farmer und die Schweine beisammensitzen und der Unterschied zwischen ihnen manchmal kaum noch zu erkennen ist.

Solche Überlegungen gelten oft heute noch als Frevel. Geblendet von den Greueln des letzten Krieges, hat Europa sein wichtigstes geistiges Erbe vergessen, nämlich die Pflicht, die Vergangenheit sachlich und kritisch zu betrachten. Statt dessen ist von der "Unantastbarkeit der Resultate des Zweiten Weltkriegs" die Rede. Die Erfahrung zeigt, daß kein Krieg ein eindeutiger Konflikt zwischen den Kräften des Guten und denen des Bösen ist; daß jeder Krieg einen Ausbruch elementarer Gewalt darstellt; daß auf beiden Seiten Unschuldige leiden; daß niemand das Recht hat, dieses Leid zu bagatellisieren - und daß dennoch das Recht auf einer Seite steht und man erkennen kann, auf welcher. Der Zweite Weltkrieg ist da keine Ausnahme.

Die Reflexion darüber ist jedoch ausgeblieben. Der Westen hat den Zweiten Weltkrieg bis heute nicht bewältigt. Er hat bis heute nicht eingesehen, wie problematisch die ideologischen Kompromisse mit Stalin waren, deren Folgen bis heute eine Last sind. Auch die russische politische Elite hat sich mit dem Zweiten Weltkrieg nicht auseinandergesetzt. Sie scheint nicht fähig zu sein, den legitimen Kampf gegen den Aggressor Hitler von der Realisierung illegitimer imperialistischer Ansprüche Sowjetrußlands zu unterscheiden; sie bekennt sich stolz zu den Exzessen des sowjetischen Imperialismus und benutzt sie zur Rechtfertigung von Machtambitionen.

Auch die Deutschen haben sich mit dem Zweiten Weltkrieg nicht wirklich auseinandergesetzt: Sie finden sich nur ab mit der Rolle des ewigen Prügelknaben. Doch eine spektakuläre Selbsterniedrigung zeugt noch nicht von wirklicher Reflexion.

Wer sich über die Vergangenheit nicht im klaren ist, setzt sich dem Risiko aus, von ihr eingeholt zu werden. Zwar geht von der friedlichen Regionalmacht Deutschland keine Bedrohung mehr aus; auch ist es nicht vorstellbar, daß Rußland wieder zu einer starken, aggressiven, den Weltfrieden gefährdenden Supermacht wird. Die Gefahr aber besteht, daß der Westen im Kampf gegen den islamischen Terrorismus die notwendige Zusammenarbeit mit Rußland wieder als ein heiliges Bündnis der Prinzipien auffaßt. Den Preis für diesen Irrtum könnten wieder die kleinen Völker Mittel- und Osteuropas bezahlen müssen.

Bohumil Doležal. Der Autor ist Politikwissenschaftler und lebt in Prag.