Das Münchner Syndrom und die Inseln der positiven Deviation

Das ganze Jahr 2013 über erleben wir Tschechen einen langsamen Abstieg von der (relativen) Freiheit zur (relativen) Unfreiheit. Alles ist relativ. Die vergangenen 23 Jahre war es in Tschechien nicht so schön wie im guten alten England. Künftig wird es wiederum nicht so schlimm werden wie unter dem totalitären Regime. Was allerdings nur ein relativ geringer Grund zur Zufriedenheit ist.

Wir sollten uns jedoch nicht nur auf die hohe Politik konzentrieren. Der Abstieg wurde seit langem vorbereitet. Er dauert bis heute an, und wir alle sind an ihm beteiligt: Die Politiker, Journalisten, Intellektuellen, die übrigen Bürger. Ich führe drei kleine, aber bedeutsame Beispiele an, drei Steine im Mosaik.

Beispiel Nr. 1: Die Normalisierung des Prager Instituts für das Studium totalitärer Regime (USTR). Das Institut entstand als Produkt der Verzweiflung über den unerfreulichen Zustand der "Aufarbeitung des Bolschewismus". Diese Verzweiflung mündete in den Versuch, die Freiheit der Forschung auf die Autorität des Staates zu stützen. Doch die Autorität des Staates schwand schnell dahin und seine Instabilität nahm zu. In dieser Situation brach der "Fall Milan Kundera" aus: Hat der berühmte Schriftsteller einen Menschen denunziert? Ein Mitarbeiter des Instituts für das Studium totalitärer Regime schrieb zu diesem "Fall" einen Artikel für die renommierte tschechische Wochenzeitschrift "Respekt", worauf öffentlich das Problem erörtert wurde - dürfen Informationen veröffentlicht werden, die bekannte Personen in ein schlechtes Licht rücken? Die Mehrheit der Publizisten und Historiker war dagegen: Die unverzügliche Veröffentlichung jedes bekannten Namens aus den Quellen des Instituts würde angeblich keinen Fortschritt bei der Erkenntnis der Vergangenheit bringen. Die Einrichtung soll ihre Dokumente den Forschern zur Verfügung stellen und sich im Detail mit ihnen befassen, und sie nicht nach der ersten schockierenden Entdeckung den Medien zur Verfügung stellen, war ihre Meinung. Worauf so etwas wie die Kämpfe um die Echtheit der altböhmischen Texte im 19. und 20. Jahrhundert entbrannten: Der akademische Rat der tschechischen Akademie der Wissenschaften kam zur Schlussfolgerung, die Autoren des Artikels hätten einen Mangel an kritischem wissenschaftlichen Denken an den Tag gelegt. Elf prominente Persönlichkeiten aus dem Ausland verteidigten unseren Promi (Kundera). Unwürdig verhielten sich tschechische Spitzenpolitiker: Der damalige Vizepremier Petr Nečas ließ sich hören, es müsse eine Zentrale gegründet werden, die sagt, ob diese oder jene Information veröffentlicht werden kann. Der Senatspräsident (vom Senat, dem Oberhaus des tschechischen Parlaments, hängt die Existenz des Instituts USTR ab) warf diesem vor, es mische sich in die Politik (!) ein und beorderte dessen Leitung zu einer Standpauke.

Die Leitung machte sich leider in die Hosen. Der USTR-Direktor verwahrte sich, die Medien hätten die ganze Angelegenheit verzerrt. Die Sache (mit Kundera) hätte zuerst im Institut und erst dann in "Respekt" veröffentlicht werden sollen. Es habe sich um einen einmaligen Ausrutscher eines Mitarbeiters gehandelt. Die Sache werde mit diesem behandelt und die publizistischen Aktivitäten der Angestellten künftig kontrolliert. Viel half das dem USTR-Direktor nicht. Innerhalb von zwei Jahren musste er den Hut nehmen. Sein Nachfolger verpflichtete sich, dass sich der Vorfall nicht wiederholen wird. Doch der inzwischen durch Nachwahlen veränderte Senat ließ im wissenschaftlichen Rat des Instituts keinen Stein auf dem anderen, und der neue Direktor musste auf Veranlassung des Gremiums im Frühjahr dieses Jahres gleichfalls gehen. Der gesamte Rat trat nachfolgend zurück, was jedoch nichts bewirkte. Die neue USTR-Leitung ernannte einen neuen, eigenen (ähnlich wie Staatspräsident Miloš Zeman dann "seine" Regierung ernannt hat). Sukzessiv versagten somit Publizisten, Politiker, Historiker und letztlich auch die Leitung des Instituts.

Beispiel Nr. 2: Der Staatspräsident hat den Medien den Krieg erklärt. Nicht allen, aber einem wesentlichen Teil von ihnen. Miloš Zeman tat dies in seiner Antrittsrede im Frühjahr dieses Jahres. Die anwesenden Politiker und Verfassungsträger, die der neue Staatschef aufforderte, sich ihm bei diesem Kampf anzuschließen, reagierten mit spontanem Applaus (einige angeblich nicht, aber zu hören waren sie nicht). Nachfolgend forderten über 150 Personen die Verfassungsträger auf, sich klar zum Appell des Präsidenten zu äußern (glücklicherweise waren sie zu hören, weil mehrere prominente Persönlichkeiten unter ihnen waren). Die Politiker, die auf den Offenen Brief der 150 auf diese oder jene Weise reagierten, krümmten und wanden sich allerdings: Der Präsident habe lediglich seine persönliche Meinung geäußert und die Medien seien angeblich zumindest teilweise selbst für die negative Haltung Zemans verantwortlich.

Und letztlich Beispiel Nr. 3, ein ganz frisches: Der in Tschechien agierende Oligarch Andrej Babiš hat ein Problem mit dem gesellschaftspolitischen Prager Magazin "Reflex" und dessen Chefredakteur Pavel Šafr. Das gab Babiš jetzt zur Genüge bei einem Meeting in Brünn, im kommerziellen Rundfunksender "Frekvence 1" und auch im Nachrichtenkanal des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehens ČT 24 zu erkennen. Er bezeichnete Šafr wiederholt als Psychopathen, beschuldigte den Journalisten, er diene den politischen Parteien, die über uns (Tschechen) schon seit 23 Jahren herrschen. Šafr habe im Prager Verlagshaus Mafra verboten, über Václav Klaus zu schreiben, habe den Kommentator Jan Macháček hinausgeworfen und die Enthüllungsjournalistin Sabina Slonková zum Abgang gezwungen. Und niemand reagiert. Nur die Moderatorin im Tschechischen Fernsehen ČT 24 wisperte etwas in dem Sinne, Psychopath sei eine medizinische Diagnose. Herr Babiš ist Multimillionär, neugebackener Besitzer zweier überregionaler tschechischer Tageszeitungen und ein ambitionierter, erfolgreicher Politiker. Er ist Šafr überlegen. Und die Journalisten lassen ihren Kollegen im Stich. Es ist nicht ihre Angelegenheit. Wenn zumindest beispielsweise Herr Macháček und Frau Slonková Babiš direkt recht gegeben hätten. So sieht es aus, als ob sie sich im Hintergrund nur ins Fäustchen lachen würden - und nicht einmal den Mut hätten, sich zu den Worten von Babiš Worten zu bekennen oder den Anstand, Šafr zu verteidigen. Im Übrigen ist Babiš's nachdrückliche und wiederholte Distanzierung von den "vergangenen 23 Jahren" bezeichnend. Wieso schweigen dann alle?

Wie diese drei Causae zusammenhängen? Das Institut für das Studium totalitärer Regimes, ein "wesentlicher Teil der Medien" und das Magazin "Reflex" sind sicher unvollkommene menschliche Gebilde und als solche kritisierbar. Hier geht es aber nicht um Kritik, sondern um den aggressiven Einsatz der Machtgelüste des neu entstehenden Establishments, das auf diese oder jene Weise unsere unvollkommene Demokratie demoliert. Und am abstoßendsten ist daran das kapitulierende Verhalten derer, die entweder direkt oder indirekt betroffen sind und dabei allein durch ihre Passivität die Machtambitionen von Leuten unterstützen, denen es um nichts anderes geht, als gegen sie hart vorzugehen.

Es handelt sich um eine Art apolitische Münchner Unterwerfung. Diese ist nicht nur eine außenpolitische Angelegenheit. Denn jedes Zurückweichen vor dem Bösen - mit der Begründung, jener, um den es sich handelt, habe auch seine schlechten Seiten und das Ganze eigentlich selbst verschuldet, wobei der wirkliche Grund in der Schwäche und Nachgiebigkeit der Alibi-Sucher besteht, die sich damit vor den Gewalttätern herausreden - hat seine Konsequenzen.

Wir leben in einer schwierigen Zeit. Von den drei erwähnten Konflikten ist der erste schon verloren, die anderen beiden werden vermutlich kein gutes Ende haben (der Herausgeber von "Reflex", eine ehrenwerte ausländische Gesellschaft, hört anscheinend ganz gut auf das Münchner Syndrom). Was künftig genauso wie einst notwendig sein wird, ist - wie Präsident Zeman sagen würde - der Aufbau von Inseln der positiven Deviation. Der Kampf für den Erhalt und die Festigung von Freiheit und Demokratie kann nicht aufgegeben werden, nur muss man sich von Zeit zu Zeit in Mäßigung üben: Jetzt wird es eher um die unteren Stockwerke der Politik gehen, um das Vereinsleben, um die Glaubensgemeinschaften (die sind bei uns langzeitig und von ihrer Bestimmung her "Inseln der positiven Deviation"), und wenn die großen Medien verkauft und gekauft werden, um das Internet. Und allgemein geht es darum, dass einmal niemand über uns das schreiben kann, was im Sommer 1948 der damalige amerikanische Botschafter in Prag, Lawrence Steinhardt, schrieb: "Aus amerikanischer Sicht scheint es verachtenswert zu sein, dass mit Ausnahme einiger Studenten keine einzige Person, angefangen vom Präsidenten der Republik bis zum letzten Bürger, ein Wort zur Verteidigung ihrer politischen Freiheiten fallen ließ."

Lidové noviny 14. Oktober 2013
Übersetzung Sylvia Janovská