Bundespräsident Gauck schulden wir etwas

Der Besuch von Bundespräsident Gauck in Prag am 10. Oktober knüpfte an sein Schreiben an seinen tschechischen Kollegen Vaclav Klaus vom Juni an. In dem Brief schrieb Gauck, dass sich die Deutschen ihrer geschichtlichen Verantwortung für die Massaker in Lidice und in Ležáky bewusst sind, den Schmerz mit den Opfern teilen und mit den Hinterbliebenen leiden. Sowohl der tschechische Präsident als auch die tschechische Öffentlichkeit nahmen das Schreiben als positive Geste auf. Häufig ertönte dabei der Seufzer „Na endlich“, sehr selten dagegen „wenn wir nur ähnlich entgegenkommend sein könnten“. Nachfolgend entstand der Plan eines kurzen, aber bedeutungsvollen Besuchs, der am 10. Oktober stattfand. Er verlief in einer Zeit, in der der Zerfall der stärksten tschechischen Regierungspartei, der konservativen Bürgerpartei ODS, näher zu rücken schien, die Titelseiten der Zeitungen von einem weiteren Korruptionsfall beherrscht wurden und die Regional- und Senatswahlen bevorstanden. Nicht einmal diese Ereignisse überschatteten den Besuch des Bundespräsidenten.

Bereits im Vorfeld hatte sich Gauck bemüht, die Nervosität der Gastgeber zu zerstreuen. In einem Gespräch für die tschechische Tageszeitung "Mladá fronta Dnes" beantwortete der Bundespräsident die Frage, ob er erwarte, dass die tschechische Seite mit der gleichen Einfühlsamkeit wie er das Leid der Deutsch-Böhmen nach dem Krieg anerkennen würde, mit den Worten: "Jedes Volk entscheidet selbst über seinen Umgang mit der Geschichte und über seinen Weg zur Wahrheit. In Westdeutschland bedurfte es erst der Studentenbewegung von 1968, dass in weiteren Kreisen als zuvor - und durchaus schmerzhaft - über eigene Schuld gesprochen wurde und mehr Deutsche begannen, Empathie mit den Opfern des Naziregimes zu empfinden. Das war und ist ein Segen, allerdings ein mühsam errungener." Vor dem Besuch des im Juni 1942 von deutschen Polizeieinheiten aus Rache für das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, ausgelöschten Dorfes Lidice sagte Gauck auf einer Pressekonferenz mit Václav Klaus noch, er wolle jetzt keine anderen Themen öffnen. Er denke nicht, dass bereits alles gesagt worden sei, werde aber ein zu anderer Zeit und an anderen Orten zu dieser Problematik zurückkehren.

Präsident Gauck geht auf die sensible Angelegenheit der "gemeinsamen deutsch-tschechischen Vergangenheit" taktvoll und professionell ein. Er weiß, dass die Vorgehensweise "Nun habe ich mich entschuldigt, und jetzt macht, dass auch ihr euch entschuldigt" u. a. auch kontraproduktiv ist. Das Einzige, was der Mensch für seine Nächsten tun kann, die mit ihrer Vergangenheit irgendein Problem haben, besteht darin, als Vorbild voranzugehen und bei der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit konsequent zu sein - in der Hoffnung, dass er seine Partner zu etwas Ähnlichem inspirieren wird.

Und wie haben sich bislang diese Partner verhalten?

Václav Klaus sagte nichts Neues. Angeblich ist er genau wie Gauck davon überzeugt, "dass es unerlässlich ist, dass wir weiteren Generationen die Vergangenheit gut zeigen können, damit sie nicht in Vergessenheit gerät“. Zugleich wiederholte Klaus seine ältere Parabel von dem Rückspiegel, der wichtig ist, aber nicht den Blick auf die Gegenwart und die Zukunft verhüllen darf und verwies auf die gemeinsame Deutsch-tschechische Erklärung von 1997: Dazu, was dort gesagt wird, habe er nichts Neues mehr hinzuzufügen.

Und hier besteht leider das Problem. In der Tageszeitung "Lidove noviny" hieß es am 11. Oktober, Deutschland habe in der Erklärung seine Verantwortung für die nazistischen Repressionen in der Zeit des Protektorats bekannt und die tschechische Seite das Unrecht und das Leid bei der zwangsweisen Aussiedlung der Sudetendeutschen bedauert. Das ist eine allgemein verbreitete, jedoch falsche Auslegung: Bei der zwangsweisen Aussiedlung soll es zu Unrecht und Leid gekommen sein, aber wenn die Zwangsaussiedlung ohne diese erfolgt wäre, wäre alles in Ordnung.

 

Wie hätte um Gottes Willen eine Vertreibung ohne Unrecht und Leid verlaufen können! In der Erklärung heißt es stattdessen eindeutig: "Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung, unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugeführt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung." Der Irrtum von "Lidove noviny" ist verständlich, weil in der Abgeordnetenkammer des Parlaments in Prag diese Desinterpretation einst die Verabschiedung der gemeinsamen Erklärung überhaupt möglich gemacht hat.

Deshalb würde ich die Begeisterung über "eine Geste, wie es sie hier noch nicht gegeben hat", "an die sich bislang kein deutscher Leader gewagt hat" beim Blick in die eigenen Reihen eher dämpfen. Der Redakteur Luděk Navara sprach in "Mladá fronta Dnes" davon, dass sich die Deutschen "langsam und strauchelnd, aber klar von ihrem nazistischen Erbe gelöst haben" und "Gaucks Worte nur ein Teil dieser Strömung sind" (also dieses langsamen Strauchelns?). Navara tischt die eigenartige These auf, dass "die Vergebung die Schuld nicht verdeckt" und spricht liebevoll von "tschechischen Übergriffen". Und der Historiker Oldřich Tůma nahm die Haltung eines objektiven Schiedsrichters im Eiskunstlauf ein, der die deutschen Leistungen in der Disziplin der Entschuldigung beurteilt: "Deutsche Politiker haben sich zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs bereits vor Gauck geäußert, aber er machte einen großen Schritt nach vorn in der Rasanz und Emotionalität seiner Formulierung des Entgegenkommens gegenüber den Tschechen." Wir können nur hoffen, dass - ähnlich wie im Eiskunstlauf nach den dreifachen Salchows die vierfachen folgten - wir auch hier ein noch rasanteres und gefühlsbetonteres Entgegenkommen erleben werden.

Zum Schluss: Bereits seit der Deutsch-tschechischen Erklärung ist etwas unausgesprochen geblieben. Das ist unser (tschechisches) Problem, mit dem wir uns selbst auseinandersetzen müssen. Damit hat Präsident Gauck Recht. Er kann höchstens als Vorbild vorangehen. Das ist auch meine Meinung, was ich sogar schon längst geschrieben habe. Das Problem besteht nur darin, dass es in der Praxis noch immer nicht funktioniert. Und wenn das deutsche Entgegenkommen auch in Zukunft an die Wand des tschechischen Widerwillens stoßen wird, kann es leicht geschehen, dass das in Deutschland für unangebrachtes Flagellantentum gehalten wird. Daran werden auch wir schuld sein.

Tageszeitung "Lidové noviny", 15. Oktober 2012
Übersetzung Sylvia Janovská