Die Krise der europäischen Integration

Die Prager Tageszeitung "Lidové noviny" berichtete am 11. August über die Reaktion der italienischen Presse und italienischer Politiker auf die angebliche Unlust Deutschlands, sich an der Rettung der gefährdeten Länder der Eurozone zu beteiligen. Reminiszenzen an den Zweiten Weltkrieg tauchen auf: In den zu Berlusconis Medien-Imperium gehörenden Zeitungen wird im Kontext mit Deutschland über das "Vierte Reich" gesprochen. Die Deutschen haben angeblich nicht einmal nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Millionen Toten genug (mir ist dabei nicht ganz begreiflich, wie die italienischen Journalisten so leicht den Fakt außer Acht lassen können, dass Italien während des Krieges der Hauptverbündete Deutschlands war). Ein herausragender Politiker aus Berlusconis Partei soll erklärt haben, Deutschland sei widerspenstig und werde dafür bestraft werden. Und anderswo in den Zeitungen jagen das "große Germania", das "völlig deutsche, eindimensionale Europa" Angst ein.

In Italien setzen sie allerdings nur das fort, was schon vor einiger Zeit in Griechenland seinen Anfang nahm. Auch dort wurde vom "Vierten Reich" gesprochen. Es tauchten sogar Bilder von Bundeskanzlerin Merkel in nazistischer Uniform auf. Im Februar sagte der damalige griechische Vizepräsident Theodoros Pangalos gegenüber BBC, Deutschland stehe es nicht zu, Griechenland zu kritisieren, weil die Nationalsozialisten die griechische Wirtschaft ruiniert und zudem Tausende Menschen ermordet haben. Sie schafften auch das Gold aus der griechischen Staatsbank und griechisches Geld fort und hätten bis heute nichts zurückerstattet (letzteres entspricht nicht der Wahrheit).

Gerechtigkeitshalber sei gesagt, dass es sich nicht um die offiziellen Standpunkte der griechischen und der italienischen Regierung handelt. Allerdings sind diese Stimmen unüberhörbar und es sind nicht wenige. Aber vor allem - die Einwohner dieser Länder hören offensichtlich auf sie. Der grundlegende Eindruck eines Menschen, der außerhalb der Eurozone und in einem "neuen" Land der europäischen Gemeinschaft lebt, ist eindeutig: Die Öffentlichkeit im Westen empfindet die Probleme des Zweiten Weltkriegs als existent und offen. Man kann sie als relevante Argumente bei der Kritik der deutschen Finanzpolitik einsetzen. Und es drängt sich die Frage auf, ob nicht nur im Konzept der EU, sondern auch der NATO und der ganzen westeuropäischen Integration überhaupt nicht irgendeine problematische Stelle existiert.

In diesem Zusammenhang fallen mir zwei Thesen ein. Mit der ersten kam irgendwann in den fünfziger Jahren beim Aufbau der NATO der damalige Generalsekretär dieser Institution, Lord Ismay: Es sei angeblich notwendig, die Amerikaner innerhalb, die Russen außerhalb und die Deutschen unten zu halten. In einer Zeit, in der die Gräuel des Krieges noch lebendig waren, war das vielleicht verständlich. Die Einhaltung dieser These würde heute die Vertretung der Ansicht bedeuten, dass Deutschland - das größte europäische Land - ein Verbündeter der zweiten Kategorie ist. Und dann besteht hier die Überzeugung (die mit der ersten These auf bestimmte Weise zusammenhängt), dass es insbesondere in der EU in erster Linie um die wirtschaftliche Zusammenarbeit geht. Die wirtschaftliche Kooperation erzwingt nachfolgend die politische, falls diese notwendig sein sollte, und zwar in einem Maß und in einer Form, wie sie erforderlich sein wird. Diese Überzeugung ist marxistisch (das Wirtschaftsfundament determiniert den politischen Überbau).

Eine auf den erwähnten Thesen aufgebaute Gemeinschaft kann schon aus technischen Gründen nicht regulär funktionieren. Ab und zu erweckt die heutige Situation den unliebsamen Eindruck, dass die europäische Zusammenarbeit noch immer auf ihnen basiert und sich Deutschland schon längst in aller Stille damit abgefunden hat. Sicher entspricht es der Wahrheit, dass das deutsche Gewicht im finanziellen und ökonomischen Bereich den in Problemen steckenden Ländern große Schwierigkeiten bereiten kann, und dass das nicht nur ihre Schuld ist.

Die Labilität der Eurozone, der EU und der europäischen Gemeinschaft allgemein stellt für die "neuen" Länder der Gemeinschaft ein gewisses Problem dar. Selbstverständlich gab es anfangs beispielsweise bei uns in Tschechien eine Menge kurioser Illusionen, dennoch - das hoffe ich zumindest - überwog der Realismus: Die Erwartung, dass uns die westlichen Institutionen (EU, NATO) helfen werden, den sicheren Raum zu schaffen, der für die Festigung der Demokratie und auch die wirtschaftliche Prosperität (und um diese müssen wir uns dann schon selbst kümmern) notwendig ist. Lange Zeit war Mittelosteuropa ein Krater, der nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie übrig geblieben war, eine zerstrittene Region, die leicht zur Beute zuerst von Hitler und danach von Stalin wurde. Die Integration mit (West-)Europa versprach, dass es gelingen wird, dieses Vakuum auszufüllen. Prägnant ist vor allem das Problem mit Russland: Wir benötigen mit ihm korrekte und freundschaftliche Beziehungen, aber es ist von außerordentlicher Wichtigkeit, dabei Rückendeckung zu haben. Unsere Länder sind zwar bisweilen an den Problemen der europäischen Integration massiv beteiligt, aber dennoch kann vielleicht ein tschechischer Autor (bei dem es sich keinesfalls um einen "Euroskeptiker" handelt) zur derzeitigen Form und Entwicklung der europäischen Union so etwas wie an Desillusionierung grenzende Unsicherheit äußern.

Und noch eine grundsätzliche Bemerkung: Lord Ismay hatte zweifelsohne Recht in einer Sache, und zwar in der ersten: Die Amerikaner müssen im inneren Kreis gehalten werden. Sicher geht es nicht darum, dass sie der EU beitreten würden: Es geht darum, dass sie ein fester Bestandteil der westlichen Gemeinschaft wären, selbstverständlich verbunden mit dem Fakt, dass sie mit ihrem natürlichen Gewicht immer der primus inter pares (Erster unter Gleichen) sein werden. Falls jemand in Europa der Meinung ist, dass das vereinte Europa fähig sein wird, so etwas wie eine weitere Kraft in der multipolaren Welt zu bilden, dann geht mit ihm die Fantasie durch. Und wenn er sich zugleich noch vor einer deutschen Dominanz in Europa fürchtet, findet er sich an der Schwelle der politischen Schizophrenie wieder. Die wenn auch ungewollte Unterstützung der gelegentlichen amerikanischen Neigung zum Isolationismus ist für Europa selbstmörderisch. Das heutige demokratische Europa steht und fällt mit dem, ob es seine engen Verbindungen zu den USA erhält.

überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 14. August 2012
Übersetzung Sylvia Janovská