Streichen wir die Meinungsfreiheit?

Es ist Ferienzeit und so kann es leicht passieren, dass sich die Medien auf die wichtigsten aktuellen politischen Ereignisse konzentrieren und ihnen andere - auf den ersten Blick unauffälligere - entgehen, die jedoch auf ihre Weise zumindest genauso viel Aufmerksamkeit verdienen. Hier ist ein Beispiel:

Die Polizei der Tschechischen Republik (genauer gesagt die Polizeikreisdirektion der Region Mittelböhmen, Gebietsreferat Beroun) hat die Strafverfolgung des bekannten Aktivisten Jan Šinágl aufgenommen. Ihm wird das Delikt der Anzweifelung des Genozids gemäß § 405 des Strafgesetzbuches vorgeworfen. Diese Straftat beging Šinágl angeblich, in dem er auf seiner Website auf grobe Weise die von den deutschen Nationalsozialisten auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren nach dem Antritt des Stellvertretenden Reichsprotektors Reinhard Heydrich und dem Attentat auf diesen Statthalter der totalen Macht am tschechischen Volk verübten Verbrechen in Zweifel gezogen haben soll.

Die Beschuldigung beruft sich auf zwei Texte von Šinágl aus dem Jahr 2011. Im ersten schreibt der Autor u. a., zum Attentat auf Heydrich sei es gegen den Willen der heimischen Widerstandsbewegung gekommen. Die Attentäter hätten in den Augen des "durchschnittlichen Tschechen" die bequeme Kollaboration gestört und ihn vor schwierige und lästige moralische Dilemmata gestellt. Die Anzahl der Opfer dieser Ära sei angeblich kleiner als die Anzahl der Opfer der tschechischen Repressionen gegen die Sudetendeutschen nach Kriegsende und die Anzahl der Opfer des kommunistischen Terrors in den fünfziger Jahren. Dem zweiten Text zufolge wird in der heutigen Zeit das Thema des Massakers von Lidice ausgenutzt, um die Verbrechen gegen die deutsche Bevölkerung in der damaligen Tschechoslowakei nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu rechtfertigen.

Die „Unterlagen zur Aufnahme der Strafverfolgung" von Jan Šinágl gewährten mit ihren Strafanzeigen der ehemalige Abgeordnete des einstigen tschechoslowakischen Bundesparlaments Bohuslav Hubálek sowie die Schlagersängerin Helena Vondráčková und deren Ehemann Martin Michal - also eine relativ mannigfaltige Gesellschaft. Die Polizei forderte überdies vom Prager Institut für das Studium totalitärer Regimes eine Expertise an.

Soweit die Fakten. Jan Šinágl ist durch Ansichten bekannt, die man heute als „kontrovers“ bezeichnet. In den beiden inkriminierten Texten leugnet dieser Querdenker jedoch keinesfalls die Verbrechen des deutschen Nationalsozialismus. Er schreibt lediglich, die Nachkriegsverbrechen an den Sudetendeutschen und die Verbrechen der Kommunisten in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seien noch größer gewesen als die Verbrechen der Nazis im Protektorat Böhmen und Mähren während der Tätigkeitszeit Heydrichs und unmittelbar nach dem Attentat auf ihn.

Die Meinungsfreiheit wird bei uns in Tschechien durch das Verfassungsgesetz Nr. 2/1993 - die Charta der Grundrechte und -freiheiten - definiert. Die Meinungsfreiheit und das Recht auf Information sind diesem Dokument zufolge garantiert, können jedoch per Gesetz eingeschränkt werden, insofern es sich um eine in der demokratischen Gesellschaft unerlässliche Maßnahme zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer handelt, um die Sicherheit des Staates, die öffentliche Sicherheit, den Schutz der öffentlichen Gesundheit und Sittlichkeit. Die Einschränkung ist sehr allgemein gehalten, wird aber durch konkrete Gesetze und mittels des Modus ihrer Applikation spezifiziert. Was offensichtlich auch im Fall von Herrn Šinágl vorgesehen ist.

Schauen wir uns die „kontroversen Ansichten“ einmal näher an. Kontrovers bedeutet nicht unbedingt falsch. Die Demokratie basiert auf der Überzeugung, dass die Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Meinungen in der freien Diskussion belegt wird und dieser deshalb genügend Raum bemessen werden muss. Wenn außerdem jemand beharrlich und mutig nonkonformistische Ansichten - selbst wenn sich diese in der freien Diskussion nachfolgend als unrichtig erweisen - durchsetzt, trägt er dazu bei, dass seine Kritiker ihre Argumente präzisieren und stärken und festigt damit die Aufgabe der freien Diskussion (das ist bitte nur meine Paraphase der Worte von J. F. Kennedy). Von diesem Standpunkt aus stellt das Bemühen, Ansichten auszumerzen, die wir für unrichtig halten, ihre Kriminalisierung, immer den Ausdruck einer gewissen Schwäche und des Misstrauens zur Freiheit dar. Es sollte auf ein Minimum begrenzt werden. Ich betone, dass ich hier nicht die Ansichten von Herrn Šinágl verteidige (mit einigen bin ich einverstanden, mit anderen nicht, aber so ist das nun einmal im Leben), sondern sein Recht auf freie Meinungsäußerung.

Die Beschuldigung von Herrn Šinágl ist ein Versuch, das genaue Gegenteil einer freien Diskussion zu erreichen. Herr Šinágl behauptet, die Kommunisten seien schlimmer gewesen als die Nazis. In der Stellungnahme des Instituts für das Studium totalitärer Regimes heißt es laut Beschuldigungsbeschluss u. a., es sei nicht wahr, dass das Attentat auf Heydrich gegen den Willen der tschechischen Widerstandsbewegung verwirklicht wurde. Angeblich ist es wahr, dass einige Mitglieder des heimischen Widerstands mit dem Attentat nicht einverstanden waren. Es ist angeblich nicht wahr, dass sich Tausende Denunzianten fanden. Wahr sei, dass einige Hundert Denunzianten aufgetaucht seien (Šinágl spricht von „Hunderten, wenn nicht Tausenden“). Und es ist nicht wahr, dass das Massaker in Lidice 172 Opfer forderte. Es waren 340. Soll dafür vielleicht ab jetzt auch jemand eingesperrt werden?

Zu guter Letzt eine kleine Anmerkung: Der Beschluss über die Aufnahme der Strafverfolgung trägt das Datum des 29. Juni dieses Jahres. Er erfolgte unmittelbar nach den pompösen Gedenkfeiern zu den mit dem Attentat auf Heydrich zusammenhängenden Ereignissen und zugleich zu Beginn der Ferien, wenn die Bürger (einschließlich der Journalisten) auf Urlaub sind und dem öffentlichen Leben nicht so viel Aufmerksamkeit wie sonst widmen. Gern würde ich glauben, dass der Sinn der pompösen Feierlichkeiten nicht zugleich in der Unterbindung der Meinungsfreiheit über die problematischen Seiten unserer jüngsten Vergangenheit besteht, und es sich bei dem Ferien-Timing um einen reinen Zufall handelt. Irgendwie gelingt mir das jedoch überhaupt nicht.

überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 11. Juli 2012
Übersetzung Sylvia Janovská