Der Sprecher des tschechischen Volkes

Staatliche Institutionen einschließlich der hochkarätigsten pflegen einen Sprecher zu haben. So ist z. B. Herr Ochvat Sprecher des Präsidenten der Republik, Herr Osúch wiederum Sprecher des Ministerpräsidenten (oder ist es umgekehrt? Ich bringe das manchmal durcheinander). Bislang wissen aber längst nicht alle, dass auch das tschechische Volk einen Sprecher hat. Es handelt sich um Herrn Luboš Palata. Ernannt hat er sich selbst. Das letzte Mal bekannte er sich am 28. November in "Lidové noviny" offen zu dem Amt ("Tschechisch-deutsche Differenz. Über die Zukunft")

„Wir Tschechen“, schreibt Palata dort, „bestehen richtigerweise darauf, dass zwischen den nazistischen Bestialitäten und den Nachkriegsbestialitäten der Tschechen an den Deutschen keine Parallele gezogen werden kann, weil sonst der Unterschied zwischen Ursachen und Folgen verwischt würde." Sicher, als Sprecher kann er sich beispielsweise nicht erlauben zu schreiben: "Wir bestehen unsinnigerweise darauf…." Die Kritik des "bestehen" ist jenen erlaubt, die sich wie der Autor dieser Zeilen zwischen "schwelenden Brandherden auf verlassenen Schlachtplätzen" bewegen (die dann wiederum nicht derart verlassen sind) und gewillt sind, dies auch weiterhin zu tun. Im Unterschied zu dem Sprecher des tschechischen Volkes bin ich nämlich davon überzeugt, dass der Modus, mit dem bei uns (in der Tschechischen Republik) auf offiziöser Ebene das "sudetendeutsche Problem" abgeschlossen wurde (vor allem die Theorie von den "Ursachen und Folgen") nicht korrekt ist. Dass den tschechischen Bestialitäten deutsche Bestialitäten vorausgegangen sind, macht die tschechischen Bestialitäten begreiflich, rechtfertigt sie aber nicht. Worum es nach jedem verheerenden und unmenschlichen Krieg in erster Linie geht, ist die Errichtung eines stabilen, das heißt gerechten Friedens. Die verübten Verbrechen sollen bestraft werden, jedoch in den Grenzen dieser Grundaufgabe. So hat beispielsweise eine Strafe auf der Grundlage der Kollektivschuld mit Gerechtigkeit überhaupt nichts gemein. Und zur Schaffung eines gerechten und stabilen Friedens gehört auch die Vergebung. Den Geboten zufolge, auf denen unsere Zivilisation basiert, soll dem Bruder (in diesem Fall dem sudetendeutschen) nicht sieben Mal, sondern siebenundsiebzig Mal vergeben werden (d. h. wesentlich mehr, als wir bereit wären, zuzugestehen). Was in diesem Fall keiner der tschechischen Verfassungsträger von (Präsident) Klaus über (Ministerpräsident) Nečas bis zum Sprecher des Volkes getan hat (jetzt bin ich mir nicht sicher, ob Herr Palata auch ein Verfassungsträger ist).

Die Sicht auf die Vergangenheit habe sich sehr angenähert, berichtet der Sprecher. Es ist nicht ganz klar, welche Sicht wessen auf wen; offenbar der des Sprechers und der Deutschen aus den Sudeten oder sogar von allen. Die Vertreibung war angeblich nur eine Vergeltung und das tragische Ende des tausendjährigen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen beginnt 1938 mit München und mit der nazistischen Okkupation. Ob es sich nun wirklich um eine gemeinsame Sicht handelt oder nicht: Ich halte sie für ungeheuerlich. Zu zivilisierten Beziehungen zwischen den Völkern und Staaten gehört keine Vergeltung. Und wenn wir in der Vergangenheit danach fahnden werden, womit das "tragische Ende" des tschechisch-deutschen Zusammenlebens beginnt, sollten wir nicht bei München Halt machen, sondern zur Bildung des tschechoslowakischen Mini-Imperiums übergehen, dann zu den österreichisch-tschechischen Versuchen, die politische Emanzipation der tschechischen Nationalgemeinschaft zu blockieren… und letztlich werden wir bei Adam und Eva enden. Unser Problem sind nicht die deutschen Verbrechen - mit diesen befasst sich die deutsche Gesellschaft schon seit 65 Jahren intensiv. Unser Problem sind unsere Verbrechen. Und die Aufgabe besteht nicht darin, sich aus ihnen so bequem wie möglich herauszuwinden, sondern in der Stärkung des Friedens in unserer Region.

Tageszeitung "Lidové noviny", 1. Dezember 2011
Übersetzung Sylvia Janovská