Verstehen können wir es, aber…?

Die Vorbehalte, die Stanislav Balík in "Lidové noviny" vom 12. Oktober zu dem Film "Habermanns Mühle" (Habermanns Lynch und die nationale Selbstgeißelung) vorbringt, betreffen nicht nur das Werk an sich, sondern den gesamten Zeitraum unmittelbar nach Kriegsende im Jahr 1945.

Erster Vorbehalt Balíks: Wenn der Film eine wahrheitsgetreue Beschreibung dessen wäre, was sich wirklich abgespielt hat, würde es sich um keinen einseitigen Spiegel der Perversionen handeln, die Tschechen an Deutschen begangen haben (was angeblich eine eindeutige Ambition des Streifens ist, obwohl dieser auch die "nazistischen Gräuel zeigt"). Meine Antwort darauf: Die Forderung nach einer "wahrheitsgetreuen Reproduktion der Wirklichkeit" kann vielleicht an eine historische Arbeit gestellt werden, aber nicht an ein Kunstwerk, wo eine Lizenz nicht nur zulässig, sondern auch völlig normal ist.

Wie sah die wirkliche Geschichte des Müllers Habermann in der Darstellung des Herrn Balík aus? „Während des Krieges hat er den Tschechen geholfen. Allerdings ist nicht bekannt, dass dies bis an die Grenze der eigenen Selbstaufopferung geschah." Es ist offensichtlich, dass ein derartiges Individuum keinen besonderen Respekt verdient. Nach dem Krieg wurde Habermann zwar als Deutscher festgenommen, aber erschossen wurde er von einem Menschen, der mit ihm oftmals im Wirtshaus beim Kartenspiel verloren und den Müller deshalb nicht gern hatte. Zudem war der Mörder nach Beendigung des Krieges euphorisch gestimmt. Laut Balík ist es offensichtlich, dass es sich um persönlichen Hass handelte, ähnlich wie bei den Mordfällen in der gleichen Gemeinde in den Jahren 1913 und 1921 (um welche Euphorie handelte es sich denn damals?). Die Tat - die Ermordung Habermanns - sei durch das Dekret des Präsidenten der Republik aus dem Jahr 1945 amnestiert worden, schreibt Balík.

Angesichts dieser Darstellung bin ich perplex: Macht sich bei uns Tschechen Euphorie durch mörderische Neigungen bemerkbar? Oder soll diese "Euphorie" bedeuten, dass der Betreffende sturzbetrunken war? Es gibt kein Amnestie-Dekret des damaligen Präsidenten Beneš. Es existiert lediglich das Gesetz Nr. 115/1946 Slg, wo freilich trocken konstatiert wird, dass es sich bei Taten, die ansonsten strafbar wären, vom 30. September 1938 bis 28. Oktober 1945 (!) um keine Straftaten handelte, wenn diese auf den Kampf für die Freiheit oder auf die gerechte Vergeltung für Taten der Okkupanten und ihrer Helfershelfer abzielten. Daraus ergibt sich, dass bis zum 28. Oktober 1945 auch persönlicher Hass - ähnlich wie bei den Morden aus den Jahren 1913 und 1921 - auf gerechte Vergeltung abzielte. Wenn ich Herr Balík wäre, würde ich diese These nicht breit treten.

Und der zweite Vorbehalt Balíks: Der Hass gegen die Deutschen musste demnach nicht notwendigerweiser aus dem Verhalten einzelner Deutscher entspringen, sondern aus "kollektiven Gefühlen". Das sei zwar nicht zu rechtfertigen, aber verständlich. „Wir sollten uns keine nationale Schuld für unentschuldbares Verhalten suggerieren lassen.“ In erster Linie entschuldigt Herr Balík selbst aber unentschuldbares Verhalten. Überdies geht es in dieser Geschichte um die Handlungsweise konkreter Menschen. Verstehen kann man diese auf unterschiedliche Weise (beispielsweise auch als Vergeltung für Verluste beim Kartenspiel).

Wichtig ist zu wissen, dass man diese Taten nicht rechtfertigen kann, und zwar aus dem Grund, damit wir uns künftig etwas Ähnliches nicht zuschulden kommen lassen. Das gilt für die Deutschen genauso wie für uns Tschechen. Die Reden von "Selbstgeißelung" und "Suggestion nationaler Schuld" verschleiern lediglich den Widerwillen, die Dinge so zu sehen, wie sie waren. Ohne Ausreden, dass es sich nur um eine Reaktion auf die vorhergehende Entwicklung gehandelt habe.

überregionale Tageszeitung "Lidové noviny", 18. Oktober 2010
Übersetzung Sylvia Janovská