Zum Verständnis ist es noch weit

Das I. Programm des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunks CRo hat am 11. März ein Interview mit der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, ausgestrahlt. Am 17. März kehrte zu diesem Thema u. a. der Redakteur Milan Vodička in der Tageszeitung „Mlada fronta Dnes“ zurück (Während der Okkupation haben die Tschechen fast gar nicht gelitten). Stein des Anstoßes war die Behauptung von Frau Steinbach, Hitler habe sich zu den Tschechen nicht wesentlich anders als zu seinen Mitbürgern im Deutschen Reich und viel zurückhaltender als beispielsweise auf polnischem Territorium verhalten, dass „mit der Tschechoslowakei anders als mit Polen umgegangen wurde“.

Was Frau Steinbach im Zusammenhang mit Polen sagt, ist wahr und zugleich unwahr. Es entspricht nicht der Wahrheit, weil die Art und Weise, wie sich die deutsche Okkupationsverwaltung in Tschechien verhalten hat, zwar gemäßigter als in Polen war, aber in den bisherigen tschechisch-deutschen Beziehungen völlig beispiellos. Weiter muss in Erwägung gezogen werden, dass auch im angespannten nationalistischen 19. Jahrhundert das tschechische Verhältnis zu den Deutschen und Deutschland nicht ohne Hass war, sondern so etwas wie eine Hassliebe. Gewürdigt wurden die Leistungen der deutschen Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. Die Deutschen haben uns Tschechen eine Menge europäischer Errungenschaften und zugleich Europa eine Reihe unserer tschechischen Werte vermittelt. Es ist nicht schwer, sich den Schock der tschechischen Öffentlichkeit vorzustellen, als sich Repräsentanten dieses Volkes (die Okkupationsverwaltung) auf einmal wie totale Rindviecher zu verhalten begannen. Und letztendlich: Ich sage das ungern, und es betrifft nicht die Vertriebenen (oder nur die Vertriebenen), sondern die Deutschen, die beispielsweise die Zulänglichkeit des tschechischen Widerstands beurteilen: Der Gewalttäter ist nicht zur Beurteilung befugt, ob sich das Opfer der Vergewaltigung genügend gewehrt hat. Das kann gemeinsam getan werden, in einer objektiven und friedlichen Atmosphäre.

Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Auch das, was unmittelbar nach dem Krieg mit den Deutsch-Böhmen geschah, ist in den tschechisch-deutschen Beziehungen beispiellos. Die Deutschen wollten die Tschechen zum Teil eindeutschen, zum Teil aussiedeln, zum Teil liquidieren. Die Tschechen wollten ihre deutschen Mitbürger zum Teil aussiedeln, zum Teil tschechisieren und zum Teil liquidieren, und das haben sie auch getan. Den Ausgesiedelten und einem Großteil der Tschechisierten konfiszierten sie das gesamte - auch das persönliche – Vermögen, ganz zu schweigen von den Liquidierten. Und noch heute, nach 65 Jahren, behaupten sie, es sei unvermeidbar gewesen(als wäre der Mensch verpflichtet, Böses mit Bösem zu vergelten, wie praktisch das auch wäre), und die vertriebenen Deutschen es zumindest teilweise selbst heraufbeschworen hätten. Derartige Reden zu hören ist für die Betroffenen genauso schmerzhaft wie für Herrn Redakteur Vodička das zu hören, was Frau Steinbach gesagt hat.

In dieser Situation gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder werden wir bei jedem derartigen Meinungskonflikt tödlich gekränkt sein und zugleich jubeln, weil wir damit das legitimieren können, was wir getan haben. Häufig machen das diejenigen, welche fühlen, dass sie selbst Dreck am Stecken haben und meinen, der Angriff sei die beste Verteidigung.

Oder wir können davon ausgehen, dass vernünftige Menschen guten Willens fähig sind, auch die kompliziertesten und sensibelsten Angelegenheiten sachlich zu analysieren, um gemeinsam zu einem gerechten und ausgewogenen Standpunkt zu gelangen.

Ich würde diesen zweiten Weg sehr begrüßen, obwohl mir klar ist, dass er noch viele Jahre dauern wird.

Die gekürzte Fassung dieses Artikels erschien in der Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ am 24. März 2010
Übersetzung Sylvia Janovská