Hass, der über das Grab hinausgeht

In den Kollektionen unterschiedlicher Menschen-, Zivil-, Sozial- und weiß der Himmel noch welcher Rechte fehlt mir schmerzlich ein Absatz: „Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Grab.“ Wenn ich die verhältnismäßig boshafte Interpretation beiseite lasse, dass dort, wo dem Menschen gesetzlich das Recht auf Leben zuerkannt wird, der Tod als Problem entfällt und Grabstätten überflüssig werden, bleibt nur die pragmatisch zynische Auslegung übrig. Dem Toten kann das Recht auf ein Grab (wie im übrigen jedes andere Recht) völlig egal sein. Doch dieses Recht betrifft nicht nur die Toten, sondern beispielsweise auch die Hinterbliebenen: Diejenigen, die die Toten gern hatten und deren Liebe sie erwiderten. Das Recht der Toten greift in die Rechte der Lebenden ein.

Das Recht auf eine Grabstätte ist im zivilisierten Europa im Verlauf der Jahrhunderte zu etwas geworden, was nicht problematisiert wird. Beziehungsweise werden diejenigen, die es in Frage stellen, allgemein zu recht als Schmutzfinken betrachtet. In unserer Heimat sieht das ein bisschen anders aus. So wurde z. B. im Jahr 1952 eine Reihe kommunistischer Funktionäre zum Tode verurteilt und hingerichtet. Diese Leute hatten zwar einen Prozess und eine Strafe verdient, jedoch dafür, was sie getan hatten. Sie wurden aber für etwas verurteilt und hingerichtet, was sie nicht getan hatten. Auch im Fall politischer Verbrecher sagt man dazu Justizmord. Ihre Leichen wurden heimlich im Krematorium verbrannt und die Asche auf einer Straße zerstreut.

Alles begann jedoch nicht mit dem Prozess gegen den einstigen Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Rudolf Slánský. Wir Tschechen haben genauso durchtriebene und nur ein wenig ältere Traditionen. Hier ist eine davon mit einem relativ unscheinbaren Umfang, welche aber dadurch interessant ist, weil sie zum Gegenstand einer Reflexion wurde. In der letzten Zeit berichteten über sie die tschechische Tageszeitung „Mlada fronta Dnes“ und auch die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Im Mai 1945 wurde die Kleinstadt Nový Bor (mit mehrheitlich deutscher Einwohnerschaft) von einer Einheit der spontan entstehenden tschechoslowakischen Armee besetzt. Im Rahmen des genauso spontan ausgerufenen Standrechts wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt. Bei etwa 30 Einwohnern wurden dabei angeblich Waffen und Radioempfänger gefunden (was man allgemein nicht haben durfte), aber auch Fotoapparate bzw. Schmuckstücke (eine lokale, sehr pragmatische Innovation). Um welche Waffen es sich handelte, ist unklar (angeblich war beispielsweise ein Bajonett aus der Zeit des Österreichisch-preußischen Krieges darunter, das jemand als Erinnerungsstück zu Hause aufbewahrt hatte). Unter den Delinquenten wurden sieben Personen, u. a. zwei 79-Jährige und ein 72-jähriger Greis sowie zwei Frauen), zur exemplarischen Erschießung ausgewählt. Zuvor wurden sie auf dem Marktplatz einige Stunden lang brutal gefoltert. An der Marter mussten sich auch diejenigen beteiligen, die der Hinrichtung „entgangen“ waren. Während der Exekution begab sich einer der zuschauenden Deutschen aus Stress auf die Flucht, worauf er erschossen und zu den anderen Hingerichteten gelegt wurde. Die Leichen wurden 24 Stunden ausgestellt und dann irgendwo verscharrt (angeblich an dem Ort, wo verendete Pferde vergraben wurden). Die übrigen Delinquenten wurden in die russische Zone Deutschlands deportiert, wobei einer während des Transports mit einer Schaufel erschlagen und verscharrt wurde. Eventuell flüchtete er nach Mexiko, wo er zufrieden sein Leben fristet, falls er noch nicht gestorben ist (Erinnern Sie sich an den Film „Running Man“? Suchen Sie sich die Variante aus, die Ihnen plausibler erscheint. Für mich ist es die erste. Ich bin vom Wesen her Skeptiker.). Bemerkenswert ist, dass die eine Seite (die tschechischen Nationalisten)die Bestialitäten bestreitet, die andere Seite (die vertriebenen Deutschen) bestätigt sie. In Nový Bor leben bislang Zeitzeugen, aber diese haben so große Angst, dass sie sich zu der Angelegenheit lieber nicht öffentlich äußern. Das einzige, was erhalten blieb, ist ein Protestschreiben des örtlichen Nationalausschusses gegen die Vorgehensweise der Armee (der Vorsitzende war während des beschriebenen nationalen Volksfestes angeblich in seinem Büro interniert).

An der ganzen Aktion ist nichts bemerkenswertes. Es gab Hunderte derartige (und oftmals wesentlich schlimmere) Fälle. Bemerkenswert ist, dass sich eine Gruppe der derzeitigen Einwohner von Nový Bor an den Vorfall erinnert und gemeinsam mit den Hinterbliebenen und mit Unterstützung der knappen Mehrheit der Stadtverordneten ein Denkmal für die Erschossenen durchgesetzt hat. Mit deren Namen und der Anmerkung, dass es gegen den Willen des örtlichen Nationalausschusses geschehen ist. Die Kosten trug die deutsche Seite.

Ursprünglich protestierte nur die örtliche Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM) dagegen. Nach zwei Jahren gesellten sich der Verband der Freiheitskämpfer, der Klub des tschechischen Grenzgebietes und die Tschechische Legionärsgemeinde dazu. Sie verweisen darauf, dass einer der Getöteten Mitglied der SS und einige in der NSDAP waren (deswegen wurden sie freilich nicht erschossen und auch damals war das kein Hinrichtungsgrund), dass es sich um ein Denkmal für Nazis handelt (Was für ein Denkmal? Und was ist mit den anderen sechs Erschossenen? Und dürfen bei uns Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei und der Volksmilizen nicht bestattet werden?).

Das Stadtparlament war großem Druck ausgesetzt. Dabei geht es um eine prinzipielle Angelegenheit: Gilt bei uns bislang – im Geiste des sogenannten Marxismus-Leninismus –, dass der Hass die Triebkraft der Geschichte ist? Und dass dieser Hass über das Grab hinausgeht? Genügt es nicht, dass diese Menschen unter Umständen, die ich mich schämen würde, lediglich als unklar zu bezeichnen, „erschossen“ wurden (auch eine recht verschämte Bezeichnung). Oder gelingt es, in dieser einen konkreten, partikulären Sache zu beweisen, dass wir diese abnorme Geschichtsauffassung bereits überwunden haben? Und zweitens: In einer kleinen partikulären Angelegenheit ist es faktisch gelungen, das Recht „Jeder Mensch hat ein Recht auf sein Grab“ durchzusetzen. Dieses Recht muss unter allen Umständen gewahrt werden. Und die Bürger aus Nový Bor, die dies heute tun, verdienen die Unterstützung der Öffentlichkeit.

Tageszeitung „Lidové noviny“, 10. Februar 2010
Übersetzung Sylvia Janovská