Tschechische Politiker im dunklen Wald

Präsident Klaus hat seine Forderung nach einer gewissen Fußnote zum Vertrag von Lissabon formuliert. Er befürchtet nämlich, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften prüfen wird, ob die in den Mitgliedsländern der EU angewandten Rechtsvorschriften, Bräuche und Vorgehensweisen im Einklang mit der Charta der Grundrechte der Union sind. Das würde den „ausgesiedelten“ Sudetendeutschen die Umgehung der tschechischen Gerichte und die Geltendmachung ihrer Vermögensansprüche direkt beim Gerichtshof der EU ermöglichen. Klaus fordert deshalb für die Tschechische Republik eine Ausnahmeregelung, wie sie bereits vor zwei Jahren Großbritannien und Polen erlangt haben. Nämlich die Feststellung, dass – wenn sich die Bestimmungen der Charta auf das nationale Recht eines Landes beziehen - sie (in bestimmten Fällen) nur in dem Umfang appliziert werden dürfen, wie es das Recht dieses Landes zulässt.

Mit der Forderung von Klaus haben sich bislang nur die Kommunisten eindeutig identifiziert. Die Sozialdemokratische Partei (ČSSD) behauptet durch den Mund ihres Vorsitzenden, sie teile die Besorgnis von Klaus nicht. Die konservative Demokratische Bürgerpartei (ODS) befürchtet gleichfalls keinen Durchbruch der Beneš-Dekrete. Der Vorsitzende der christdemokratischen Volkspartei (KDU-ČSL), Cyril Svoboda, ist überzeugt, dass die Haltung von Klaus längst widerlegt ist. Die Regierung der Tschechischen Republik ist nicht der Meinung, dass das „Risiko“ real wäre. Die Äußerung des Vorsitzenden der neuen liberalkonservativen Partei TOP 09, Karel Schwarzenberg, ist ziemlich pythisch. Am schärfsten reagierten die Grünen – ihr amtierender Vorsitzender Ondřej Liška sprach von einem „primitiven Nationalismus“.

Experten haben konstatiert, dass die retroaktive Anwendung der Charta ausgeschlossen und es nicht die Aufgabe des Gerichtshofes der EU ist, sich mit Beschwerden von Privatpersonen zu befassen.

Aber auch aus politischen Gründen ist etwas Ähnliches ausgeschlossen: Die EU fußt auf den „Ergebnissen des I. Und II. Weltkrieges“ und hat panische Angst davor, dass jemand versuchen könnte, diese zerbrechliche Stabilität zu verletzen.

Doch das ist nicht die Quintessenz der Angelegenheit. Der Kern des Problems besteht darin, dass Klaus „befürchtet“, während es die anderen nicht tun, oder zumindest nicht in diesem Maß. Grund der Befürchtungen ist das Prinzip der Charta „Vermögensbesitz ist unanzweifelbar“. Dieser Grundsatz stellt in seiner Allgemeinheit für die Tschechische Republik so etwas wie eine Gefahr dar. Im Jahr 1945 wurde eine kollektiv ausgewählte Gruppe von Menschen um sämtliches Eigentum gebracht. Ausnahmen wurden auf der Grundlage der Schuldvermutung gewährt. Die Schuld wurde auf der Grundlage von etwas festgestellt, was zu ihrer Zeit keine Straftat war (die Option für die deutsche Nationalität ab dem Jahr 1929). Den Politikern zufolge gilt das Prinzip in der Tschechischen Republik nur im eingeschränkten Sinne des Wortes, und die Frage ist, ob wir uns deshalb fürchten sollen oder nicht. Tschechische Historiker sind zu der Schlussfolgerung gelangt, dass im Jahre 1945 die Menschenrechte in dieser Auffassung noch nicht galten. Das ist lächerlich, weil gegen das schon einige Jahrtausende geltende Gebot „Du sollst nicht stehlen“ verstoßen wurde.

Klaus ruft auf dem Angst-Prinzip das Volk als Ganzes zum Widerstand gegen die EU auf (er empfindet richtig, dass dort beispielsweise in der Beziehung zu dem Gebot „Du sollst nicht stehlen“ nicht immer eine derartige Toleranz herrschen müsste wie bei uns). Volle Hosen sind die beste Voraussetzung für eine fanatische Einheit. Die Gegner von Klaus behaupten, es bestehe kein Anlass zur Sorge. Sie verhalten sich wie diejenigen, die im dunklen Wald pfeifen oder singen, um die Angst zu verjagen. Europa toleriert uns das.

Sicher, Europa toleriert uns das. Was bleibt ihm auch anderes übrig. Doch das ist eine vollkommen, aber vollkommen falsche Einstellung. Dass sich manche Fehler und Sünden der Vergangenheit – vielleicht sogar die Mehrheit der Sünden der Vergangenheit – nicht wiedergutmachen lassen, bedeutet nicht, dass es sie nicht gegeben hat. Wir sollten den Mut haben, sie zumindest zu gestehen – allein aus dem Grund, damit wir in Zukunft einmal nicht in Versuchung gelangen, sie zu wiederholen. Damit wir aus der fragwürdigen Gemeinschaft derjenigen ausscheiden, die das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ wiederum nicht allzu ernst nehmen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass wir uns vor den Gespenstern der Vergangenheit nicht so fürchten müssten, wenn wir das tun würden. Einfach deshalb, weil sie dann aufhören würden, Gespenster zu sein.

Tageszeitung „Lidové noviny“, 12. Oktober 2009
Übersetzung Sylvia Janovská