Der Triumph der Schamlosigkeit

Ich habe vor einigen Tagen der liberalen Prager Tageszeitung „Lidové noviny“ einen Leserbrief bezüglich der Äußerung des polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczynski zur Annexion des tschechischen Teils des oberschlesischen Industriegebiets von Teschen nach dem Münchner Abkommen von 1938 durch Polen geschrieben. Der Journalist Petr Zídek hat diesen Leserbrief als Ausgangspunkt zu seiner Erwägung über die Unproduktivität von „Entschuldigungen für die Geschichte“ herangezogen (wobei er nicht konsequent genug war, so dass er vorerst nicht von der Unproduktivität von Entschuldigungen im Allgemeinen spricht). Zídek geht bei seinen Überlegungen von den Thesen des tschechischen Historikers und Publizisten Dušan Třeštík aus. Angeblich entschuldigt sich heute jeder bei allen für alles, ohne dass dafür ein reeller politischer Grund bestehen würde. Die sich Entschuldigenden sind die gegenwärtigen nationalen und anderen Gemeinschaften, die eine Selbstidentifikation auf der Grundlage einer historischen Schuld, einer Gemeinschaft der Sünder, generieren. Die Gemeinschaft verbinden keine ruhmreichen Siege mehr, sondern schmachvolle Sünden.

Das ist eine durch die Perspektive verursachte Deformation. Sicher, eine Gemeinschaft von gemeinen Kerlen hat Angst, dass ihr Ende bevorsteht, falls sie sich zu entschuldigen beginnen würde. Gemeine Kerle können sich nicht vorstellen, dass die anderen nicht genau solche Grobiane sein müssten wie sie selbst. Sie gehen nicht davon aus, dass sie ihnen eventuell vergeben könnten, oder sie zum Nachdenken veranlassen könnte, ob nicht auch sie etwas schlecht gemacht haben. In diesem Tal der Tränen sündigen alle, in dieser Beziehung gibt es keinen Unterschied zwischen uns. Wir unterscheiden uns lediglich darin, dass nur einige fähig sind, das einzugestehen. Und außerdem tun auch alle viel Gutes. Und das Gute wird durch das Eingeständnis einer Sünde nicht ausgelöscht, sondern im Gegenteil gestärkt.

Allerdings muss eingeräumt werden, dass an dem Gerede von einer Inflation der Entschuldigungen etwas dran ist. Die heutigen Leute bei uns im Westen haben beispielsweise das Gefühl dafür verloren, dass es unproduktiv ist, sich bei Kannibalen zu entschuldigen, dass der Mensch kein Vegetarier ist. Entschuldigungen dieser Art hat (für die katholische Kirche) der Vorgänger des heutigen Papstes eingeführt. Ein Menschenfresser geht nämlich davon aus, dass einer Entschuldigung weitere und weitere folgen werden (Dies genügt nicht! Du musst zulegen!)beziehungsweise sie weitere und weitere finanzielle Ausgleiche nach sich ziehen wird. Dass sie mit dem Kannibalismus aufhören sollten, fällt den Menschenfressern überhaupt nicht ein. Und dann existiert hier die Bedeutung der historischen Distanz: In dem Fall, dass ich einst jemandem hunderttausend Kronen gestohlen habe, ist die Sache klar – ich muss mein Bedauern äußern und das gestohlene Geld zurückgeben. Wenn es der Großvater getan hat, ist das eine Schande der Familie. Das Bedauern ist angebracht, aber ansonsten nur eine „Wiedergutmachung der Folgen manchen Unrechts“, wobei dieser Raum sehr eingeengt zu pflegen scheint. Falls es ein Vorfahre im 15. Jahrhundert getan hat, dann ist es uninteressant. Per analogia ist es demnach etwas anderes, wenn es um das Thema der Vertreibung der Sudetendeutschen oder um das tschechische Verhalten zu Polen nach dem I. Weltkrieg geht, und etwas anderes, wenn von der schwedischen Kriegsbeute aus Böhmen oder dem Anteil der Liechtensteiner an der Rekatholisierung der böhmischen Länder im 17. Jahrhundert die Rede ist. Ignorieren bedeutet, sich wie der Schelm Schwejk zu verhalten.

Weiter: Eine Entschuldigung muss angeblich irgendeinen „reellen politischen Grund“ haben. Das bedeutet in der Logik von Grobianen, entweder muss sich das für uns rentieren, oder im Gegenteil drohen, dass uns empfindlich der Pelz ausgeklopft wird, wenn wir uns nicht entschuldigen. Meiner Ansicht nach ist eine Entschuldigung oder genauer gesagt, die öffentliche Benennung dessen, worin wir Fehler begangen und gesündigt haben, auch in einem anderen Sinn eine pragmatische Angelegenheit. Die Nennung der Dinge beim rechten Namen schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir sie nicht wiederholen. Und dann: Unbenannte, uneingestandene Fehler erzeugen überdauernde Spannungen zwischen den Menschen und Völkern. So hassen viele Polen und Tschechen latent die Deutschen und viele Slowaken die Ungarn. Aufgrund der Zerstrittenheit der Politiker wurde unsere Region schrittweise zur Beute Hitlers und Stalins. Die Benennung der Schuld schafft die Grundvoraussetzung für die politische Stabilität und hindert verschiedene Biedermänner daran, von außen ihre diebischen Tatzen in unsere Angelegenheiten zu stecken. Die EU hat für diese Dimension der mitteleuropäischen Politik sehr wenig Verständnis. Wir sollten uns selbst helfen, weil es in unserem Interesse ist.

Was hat sich von diesem Gesichtspunkt aus gesehen vor kurzem in Polen abgespielt? Im Bemühen, die russische Schuld am Molotow-Ribbentrop-Pakt zu zerreden, verwies der russische Ministerpräsident Wladimir Putin darauf, auch viele andere hätten sich in dieser Zeit ähnlich verhalten. In der Gesellschaft gemeiner Kerle hat dieser Logik zufolge der Mensch den legitimen Anspruch, sich gleichfalls wie ein gemeiner Kerl zu verhalten. Präsident Kaczynski gab zu erkennen, dass er sich bezüglich der Annexion der Region Teschen im Herbst des Jahres 1938 des polnischen Versagens bewusst ist. Der polnische Staatschef hat sich nicht entschuldigt, sondern nur die Sache beim rechten Namen genannt. Kaczynski hat sich pragmatisch verhalten. Einerseits nahm er der Demagogie von Putin den Wind aus den Segeln und schuf andererseits die Voraussetzungen dafür, dass auch die Tschechen darüber nachdenken können, ob sie mit ihrer vorhergehenden Handlungsweise gegenüber Polen nicht gegen die Prinzipien der Korrektheit verstoßen haben, was sich selbst in der Politik nicht lohnt. So entsteht die Voraussetzung für das, was unsere Region einiger und widerstandsfähiger machen kann: Zur „gemeinsamen Benennung der eigenen, wechselseitigen Verkommenheit“, wie einst jemand treffend geschrieben hat.

Die Grundsätze des Anstands gelten sowohl für Einzelpersonen als auch die Völker. Anstand lohnt sich. Er ist pragmatisch. Dagegen muss für Gemeinheit in der Geschichte bezahlt werden. Leider fällt die erzürnte Faust der Geschichte gewöhnlich nicht auf die Grobiane als solche nieder, sondern erst auf ihre Nachkommenschaft, die daran im beträchtlichen Maß unschuldig ist.

Eine kürzere Version des Artikels wurde am 12. September 2009 von „Lidové noviny“ veröffentlicht
Übersetzung Sylvia Janovská