Die tschechische Moral in der Darstellung von Pavel Kohout

Die liberalkonservative tschechische Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“ hat am 22. November 2008 unter dem Titel „Es werfe der Erste den Stein, der niemals ein Barbar war“ einen Artikel des Schriftstellers Pavel Kohout veröffentlicht. Zum Gegenstand seiner Polemik erkor Kohout einen Text aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom 8. 11. 2008, in dem vom „Erstaunen und auch Zorn“ zweier deutscher Touristen die Rede ist, die in einem Museum in der ukrainischen Stadt Simferopol feststellten, dass dort 87 Gemälde ausgestellt sind, bei denen ausdrücklich angeführt ist, dass sie während des Krieges von der Roten Armee in einem Museum in Aachen erbeutet worden waren. Kohout geht davon aus, dass der („mit sichtlichem Einverständnis der Redaktion des Blattes“) geäußerte Zorn und das Erstaunen nicht angebracht sind, weil die Deutschen in dem Museum in Simferopol zweitausendeinhundertsiebzig Kunstwerke geraubt hatten, was der Autor des Textes im Übrigen erwähnt.

Ich möchte mich jetzt nicht zu der Arithmetik 2170 zu 87 äußern, da man alles „Geraubte“ (Deutsche) und „Erbeutete“ (Russen) aufnehmen und auch den künstlerischen Wert der betreffenden Werke einbeziehen müsste. Das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist Kohouts Logik: Der Feind hat uns so und so viele Kunstwerke gestohlen. Das berechtigt uns dazu, ihn wiederum ordentlich zu bestehlen. Weil man unseren moralischen Grundsätzen zufolge nicht stehlen soll, würden wir höchstens jemanden bestehlen, der zuvor uns bestohlen hat. Hier weicht der moralische Imperativ des Herrn Kohout ein wenig von den zehn Geboten ab.

Herr Kohout schreibt weiter, dass Russland die Hauptlast des Krieges trug (der Vollständigkeit halber würde ich hinzufügen, nachdem sich Moskau - keinesfalls erfolglos, aber wie sich später herausstellte, nur vorübergehend - mit Hitler die Beute aus dessen ersten Annexionen im Osten Europas geteilt hatte). Am Ende des Krieges stand kein „nobles Waffenstillstandsabkommen“ (was ein Synonym von Kohout für einen Friedensvertrag der Sieger mit den Verlierern ist), sondern eine „bedingungslose Kapitulation“, welche angeblich schlichtweg bedeutet, „dass die Sieger die Verlierer auf dem Grill braten, sie portionieren und verspeisen können.“

Dazu müssen gleich mehrere Dinge angemerkt werden: Erstens handelte es sich um eine bedingungslose Kapitulation des nationalsozialistischen Regimes und nicht des deutschen Volkes. Zweitens war die Vorgehensweise der westlichen Alliierten nie eine solche, wonach sie sich alles erlauben durften. Sie wussten, dass sie sich manche Dinge nicht erlauben dürfen, weil sie sich niemand erlauben darf (gerechterweise muss gesagt werden, dass auch den Russen – wenn auch in einem wesentlich geringeren Maß – etwas Ähnliches bekannt war). Churchills „Großmut nach dem Sieg“ ist nicht irgendetwas darüber Hinausgehendes - was der Mensch zwar großzügigerweise kann, aber nicht tun muss - sondern nur eine andere Äußerung des Gebots, dass Böses nicht mit Bösem beantwortet werden soll.

Pavel Kohout spricht weiter davon, dass man die braune Pest nicht aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgen kann. Sicher nicht, warum sollte sie auch getilgt werden, und wer will sie tilgen? Genauso dürfen auch die rote Pest und andere ungeheuerliche Verbrechen, von denen unsere Geschichte wimmelt, nicht getilgt werden. Aber wie hängt die Tilgung der braunen Pest mit dem Diebstahl von Gemälden zusammen?

Pavel Kohout fährt fort, dass „keine dieser Expeditionen zur Unmenschlichkeit als Warnsignal... durch die Optik der späteren Zeit angezweifelt werden darf“. Hier stimmt etwas nicht. Manche Ereignisse (der Völkermord an den Armenen, die deutschen Verbrechen während des Zweiten Weltkrieges oder die Verbrechen der Inquisition) stellt die Optik der späteren Zeit nicht in Frage, andere (der barbarische Umgang mit der Zivilbevölkerung, die flächendeckenden Luftangriffe) sehr wohl? Und wer und anhand welcher Kriterien entscheidet, wann die Optik der späteren Zeit angebracht ist und wann nicht?

Wenn heute die Tschechen die Rückgabe der von den schwedischen Heerscharen während des Dreißigjährigen Krieges erbeuteten Gegenstände fordern würden, wären sie lächerlich, sagt Pavel Kohout. Wenn die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Ähnliches verlangen, scheinen sie erneut gefährlich zu sein. Mischen wir in diese Angelegenheit nicht den Dreißigjährigen Krieg. Er ist längst vorbei. Wenn die Tschechen die Rückgabe dessen fordern, was ihnen von den Kommunisten (welche auch Tschechen waren) nach dem Jahr 1948 geraubt wurde, ist das laut Gesetz in Ordnung. Falls sie das zurückbekommen möchten, was in den vorhergehenden drei Jahren geraubt wurde, ist das gefährlich. Warum? Weil es dann auch den vertriebenen Deutschen zurückgegeben werden müsste. Wenn die Tschechen das zurück haben wollen, was noch zuvor – während des Krieges – geraubt worden war, so ist das schon wieder in Ordnung. Eine eigenartige Magie der Jahreszahlen! Geht aus ihnen etwa hervor: Stehlen darf man, aber nur bei den Deutschen?

Und schließlich das Kernstück der Argumentation Kohouts, nämlich die tschechische Staatsdoktrin, die berühmte Theorie von Ursache und Wirkung. „Aus der flächendeckenden Bombardierung Dresdens durch die Flieger der Alliierten kann rückwirkend kein Verbrechen gegen die Menschlichkeit hergestellt werden, insbesondere nicht in einem Land, das zuvor Tausende V2-Raketen auf die Zivilbevölkerung Londons und auch Antwerpens abgefeuert hatte.“ Weil ich mit der V2-Abfeuerung nichts zu tun habe, erlaube ich mir, zu betonen: Die Theorie von Ursache und Wirkung bedeutet in der Übertragung in die normale Sprache: Wenn sich ein anderer wie ein Schwein verhält, gibt er mir eine hinlängliche Ursache (Legitimation) dafür, dass auch ich mich wie ein Schwein benehmen soll. Ein derartiges Verhalten würde zu einer totalen Versauung der Welt führen. Ich möchte keine kategorischen Urteile fällen: Gerade diese eine konkrete Handlung der Alliierten war und ist möglicherweise menschlich verständlich. Im zeitlichen Abstand ist sie leider nicht zu rechtfertigen. In die menschliche Geschichte eine physikalische Kausalität einzubringen ist unzulässig und eine Alibi-Handlung. Die Geschichte ist eine Kettenreihe von Taten freier Menschen, die sich anhand von Gründen entscheiden, entsprechend dem, was ihnen ihre Prinzipien gebieten. Dadurch sind sie von Zeit zu Zeit fähig, sich vom Zwang der „Ursachen“ zu befreien. Aus diesem Grund sind sie auch für ihre Taten verantwortlich, und ihre Taten unterliegen dem Urteil weiterer Generationen.

Pavel Kohout zitiert weiter einen Widerstandskämpfer, einen letztlich von den Deutschen hingerichteten Priester, der angeblich erklärte: „Sollte ich nach dem Krieg auf dem Gehsteig einen Deutschen treffen, so sage ich ihm: Geh aus dem Weg, Deutscher, siehst du nicht, dass hier ein Mensch kommt?“ Kohout zufolge hat angeblich erst Willy Brandt für die Deutschen das Recht erwirkt, gemeinsam mit den Gewinnern des Krieges den Gehsteig zu benutzen. Die Aussage des Geistlichen ist sicherlich durch die Atmosphäre des deutschen Terrors zu entschuldigen. Dennoch ist sie empörend. Nie hat jemand das Recht „auf dem Gehsteig zu laufen“ verloren, nur weil er ein Deutscher ist. Dieses Recht verliert – bildlich gesprochen – lediglich derjenige, der ein Verbrechen begangen hat. Als Deutscher wird der Mensch geboren, zum Verbrecher wird er.

Und zu guter Letzt: Pavel Kohout behauptet, es sei „fast allen Völkern widerfahren, dass sie für eine gewisse Zeit aus der Zivilisation in die Barbarei abdrifteten.“ Deshalb solle nur derjenige, dem das nie widerfuhr, den anderen dafür richten: „Es werfe der Erste den Stein, der niemals ein Barbar war.“ Doch hier geht es nicht um Steinwürfe. Wir Menschen sind sündig und unterscheiden uns voneinander nicht dadurch, dass einige von uns der Barbarei verfallen und andere nicht. Sondern nur dadurch, dass manche fähig sind, sich von ihrer eigenen Barbarei zu befreien, in dem sie diese benennen und bedauern. Daraus geht hervor: Unser Hauptproblem ist nicht die Barbarei der anderen, sondern unsere eigene.

23. November 2008
Übersetzung Sylvia Janovská