Von den Persönlichkeiten

Das ist ein verspätetes Weihnachtsfeuilleton. Immer vor den Festtagen überschwemmt die tschechischen Medien nämlich eine Persönlichkeitsmanie. Das Volk stimmt darüber ab, wer seine Persönlichkeiten sind. Es ist nicht ganz klar, was dieser Begriff bedeutet: Wenn ich es richtig begreife, so versteht man unter einer Persönlichkeit jemanden, der irgendeine originelle Fähigkeit hat und diese systematisch weiter entwickelt: Beispielsweise, dass er ein exzellenter Kunstspringer ist, auch wenn er Skier an den Füßen hat. (Das ist wahrlich ein extremes Beispiel, aber an extremen Beispielen lässt sich häufig das Wesen der Dinge besser verdeutlichen als an durchschnittlichen.) Es gibt auch spirituellere Varianten, beispielsweise die Kunst, mit den unterschiedlichsten Regimes auszukommen, die sich in diesem unwirtlichen Winkel der Welt während eines Menschenlebens ablösen. Mit ihrer Geschicklichkeit ist die Persönlichkeit fähig, ihre Mitmenschen zu verblüffen, es zu Einfluss und Vorteilen zu bringen. Wie zu sehen ist, bedeutet sie etwas Akrobatisches und Zirkushaftes.

An Persönlichkeiten wimmelt es bei uns nur so. Das belegen die Medienenquete sowie die Filmporträts aus der Werkstatt des Regisseurs Fero Fenič. Der Persönlichkeitskult wurde unmittelbar nach der sanften Revolution vom November 1989 eingeführt, als der Öffentlichkeit die neue Machtelite präsentiert werden musste. Die gelungenste Kreation dieses Persönlichkeitsbrutkastens war der einstige Chef der Sozialdemokraten und Ex-Ministerpräsident Miloš Zeman. Seit dieser Zeit hat sich die Persönlichkeitsproduktion vielfach beschleunigt. Falls dieser Staat noch zehn Jahre aushält (was in unserer neuzeitlichen Geschichte einen Rekord darstellen würde), werden fast alle seine Bürger an die Reihe kommen.

Die Gesellschaft produziert Persönlichkeiten und die Persönlichkeiten legen Zeugnis über die Gesellschaft ab, die sie produziert hat. Die Auswahl von Persönlichkeiten verläuft nämlich in Abhängigkeit davon, wie in der Gesellschaft die Werteparameter eingestellt sind. In der Weihnachtszeit drängt sich fast das Beispiel des Römischen Imperiums in der Ära des Beginns der Christlichen Zeitrechnung auf. Die römischen Bürger hatten einen bewährten Lebensstil:

Beispielsweise zwangen sie ihre Mitmenschen, einander im Zirkus zu ihrem Vergnügen umzubringen. Sie liebten die Veranstaltung unendlicher Essgelage, bei denen sich die, die nichts mehr in den vollen Magen bekamen, einfach übergaben, um die Prasserei fortsetzen zu können. Die Urwüchsigkeit ihres Geschlechtslebens würde heute sogar die eifrigsten Propagatoren der Gleichheit unterschiedlicher Formen der Sexualität in Verlegenheit bringen. An ihre Götter glaubten sie nicht mehr, dafür bauten sie fremden Göttern Tempel und Altäre. Arbeit stand tief unter der Würde dieser Menschen. Und die Professionalisierung der Armee war so weit fortgeschritten, dass für Geld Soldaten aus den Stämmen angeworben wurden, gegen die die Römer kämpften. Das wurde ihnen letztlich zum Verhängnis.

Es versteht sich von selbst, dass sich eine Gesellschaft von Tagedieben, Fresssäcken und Schweinigeln Persönlichkeiten nach dem eigenen Bild auswählt. Kein Wunder, dass ihrer Aufmerksamkeit ein Wanderprediger aus der entlegenen Provinz entging, der als Obdachloser geboren wurde. An seine Mission glaubten nur ein paar Getreue, die sich an den Fingern abzählen ließen. Seine eigenen Leute lieferten ihn dem Tod aus. Und als diesen der römische Administrator anbot, den Wanderprediger anlässlich des bevorstehenden Festtages zu entlassen, forderten sie stattdessen Straferlass für irgendeinen Freiheitskämpfer.

Doch dann ereignete sich eine unliebsame Sache: Innerhalb von vierhundert Jahren (die Geduld dessen, der die Geschichte lenkt, ist groß, aber nicht unendlich) blieb in dem Imperium kein Stein auf dem anderen und seine Persönlichkeiten verschwanden in der Versenkung der Geschichte. Dafür zeigte sich, dass der Wanderprediger die Fundamente der Welt gelegt hatte, in der wir bereits fast eineinhalbtausend Jahre leben.

Doch an dieser Stelle ergreifen mich Zweifel: Leben wir wirklich in ihr? Gilt das noch? Oder beginnen wir bereits langsam zu den Ausschweifungen des römischen Imperiums in der Ära der Zeitenwende zurückzukehren? Gehen wir unsere Persönlichkeiten durch, vielleicht öffnet uns das die Augen.

26. Dezember 2004