Wir sind klein und schwach – hört auf mit diesen Reden!

Ich erinnere mich nicht mehr, von welchem nationalen Klassiker dieses Zitat stammt. Es kam mir in Erinnerung, als ich in der vergangenen Woche in der Zeitung ein Gespräch mit dem Chef einer gewissen PR-Agentur las, die sich an den Wahlkampagnen der politischen Parteien beteiligt. Für die Sozialdemokraten bereitete sie eine Aktion vor, die unpolitisch beginnen und sich auf die Minderwertigkeitskomplexe, aber auch den Stolz unseres Volkes orientieren sollte. Plakate und Werbetafeln sollten die Schlagworte schmücken: Wir sind nicht klein! Wir sind nicht dumm! Wir sind nicht schwach! Es war sogar geplant, dass in den Zuschauerraum eines Prager Unterhaltungs- und Sportzentrums eine Claque eindringt, die skandieren sollte: Wir lernen den Deutschen Tschechisch! Wir lernen den Russen Tschechisch!

Das ist ein kleines Beispiel, an dem sich ein ganz allgemeines Problem demonstrieren lässt:
Minderwertigkeitskomplexe und Stolz sind zwei völlig unterschiedliche Dinge und es ist nicht ratsam, sie miteinander zu vermengen.

Nehmen wir ein Beispiel: Ein großer Mensch muss nicht skandieren „Ich bin nicht klein“, weil das jeder sieht. Dafür kann ein kleiner Mensch bis ans Ende seiner Tage rufen: „Ich bin nicht klein“, und wird dadurch keinen einzigen Zentimeter wachsen. Klein zu sein ist keine Schande und erst dann ein wirkliches Handicap, wenn wir nicht fähig sind, das einzusehen.

Oder: Wer in die Welt schreit: „Ich bin nicht dumm“, macht das wahrscheinlich deshalb, weil er das Gefühl hat, dass ihn sein Umfeld für einen Trottel hält. Was davon zeugt, dass er sich seiner Klugheit nicht ganz sicher ist. Dabei setzt sich die Dummheit aus einer Reihe konkreter Dummheiten zusammen (beispielsweise im Unwillen, sich einzugestehen, dass ich klein bin). Im Prinzip ist Dummheit heilbar, aber nicht durch Skandieren.

Drittens: Klein zu sein, muss nicht bedeuten, schwach zu sein. Stark zu sein erfordert freilich Training, also Arbeit. Wer ruft: „Ich bin nicht schwach“, trainiert lediglich seine Stimmbänder und die Wangenmuskulatur. Anthropologen haben dabei nachgewiesen, dass einst eine zu stark entwickelte Schädelmuskulatur bei einer Zweiglinie unserer Vorfahren verhindert hat, dass sich ihr Gehirn vergrößerte.

Ud schließlich die pädagogischen Neigungen: Wir lernen den Deutschen, den Russen Tschechisch, ist bildlich gemeint. Wir zeigen ihnen, was in uns steckt. Die Ebene des Gleichnisses ist aber glücklich gewählt. Die Deutschen und Russen dazu zu bringen, Tschechisch zu lernen, bedeutet, sie davon zu überzeugen, dass sich das für sie lohnt, weil wir zwar klein sind, aber weder dumm noch schwach sind. Dazu ist freilich das Skandieren im Stadion nicht der glücklichste Weg.

Stolz und Minderwertigkeitskomplexe müssen notwendigerweise in der praktischen Politik auseinander gehalten werden. Ministerpräsident Špidla attackierte beispielsweise vor kurzem bei einem Besuch in Finnland die Sudetendeutschen (eine normale Reaktion sozialdemokratischer Politiker, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen). Zum Thema der Vermögensrückstellungen erklärte Špidla: „Ich bin zu jeder Restitution bereit. Ich bin zu was auch immer bereit, unter einer einzigen Bedingung: Setzt meine 28 Verwandten, die ihr während des Zweiten Weltkriegs ermordet habt, an diesen Tisch. Weil ihr dazu nicht fähig seid, werden wir nicht zur Vergangenheit zurückkehren.“ Und er verwies auf die Pariser Reparationsabkommen, die die Konfiskation des deutschen Vermögens ermöglichten. Die tschechischen Reparationsansprüche wurden angeblich bislang nur zu zwei Prozent saturiert.

Ministerpräsident Špidla vertraue ich völlig. Ich würde ihm auch dann glauben, wenn er die doppelte Anzahl ermordeter Verwandter nennen würde. Darum geht es auch gar nicht. Es geht auch nicht darum, dass die Restitution des sudetendeutschen Vermögens nicht möglich ist. Darin sind wir einer Meinung. Das Problem besteht in dem „ihr“: „Ihr“ habt sie ermordet. Das ist so etwas wie eine gemäßigte Modifikation der Blutrache: Euer Stamm hat gemordet, unser Stamm hat ihm dafür das Eigentum beschlagnahmt. Eine Logik der jüngeren Steinzeit.

Es würde mich gleichfalls interessieren, wie Spidla für den Fall, dass die Sudetendeutschen nicht aufhören, unartig zu sein, die Konfiskation des Fünfzigfachen der Werte erreichen will, die nach dem Krieg beschlagnahmt wurden. Die Aktion wird offensichtlich nicht ohne einen Krieg mit der Bundesrepublik Deutschland abgehen. Ich befürchte, dass der jetzige Zustand unserer Armee sein Ergebnis fraglich macht. Und es ist nicht allzu wahrscheinlich, dass wir dieses rückgängig machen würden, wenn wir mit aller Kraft schreien: Wir sind nicht klein, wir sind nicht dumm, wir sind nicht schwach – und wir bringen den Deutschen Tschechisch bei!

6. April 2004
iberalkonservative Tageszeitung „Mladá fronta Dnes“