Die Tschechen und Versöhnung in Mitteleuropa

Die künftige Integrierung der postkommunistischen Länder Mitteleuropas ins europäische Ganze setzt die allmähliche Beseitigung von verschiedenen Spannungspunkten voraus, welche sowohl unter den zu integrierenden Ländern, als auch teilweise zwischen ihnen und ihren westlichen Nachbarn existieren. Diese Punkte sind nicht nur deswegen bedeutend, weil sie die internationalen Beziehungen ungünstig beeinflussen, sondern in erster Linie auch durch ihren Einfluß auf die Psyche des Volkes, das die so entstehenden Spannungen fühlt und reflektiert. Die Art und Weise einer solchen Reflexion kann die Kooperationsfähigkeit und die Kompatibilität des betroffenen Staates wesentlich behindern.

Ich möchte in meinem Beitrag über Probleme der Tschechen sprechen - d. h. über Probleme mit den unbewältigten Fehlern und Schulden ihrer Vergangenheit. Über Fehler und Schulden, die ihre Beziehungen mit Nachbarn, wie den Deutschen, den Polen, den Ungarn und den Slowaken belasten. Ich bin mir darüber im Klaren, daß diese Staaten und Völker sehr ähnliche Problemen mit ihren Nachbarn, u. a. mit den Tschechen haben, bin jedoch auch der Meinung, daß in der mitteleuropäischen Gemeinschaft der kleinen Völker, die erst vor kurzer Zeit das russische Joch losgeworden sind, ein jeder bei sich selbst beginnen und zuerst über seine eigenen Sünden sprechen soll. Ansonsten entstünde die Gefahr, daß Kritik, abgesehen davon, ob sie gerecht oder ungerecht ist, Affektionen und spontanne Abwehrreaktionen nach sich zieht, die letzten Endes völlig unproduktiv wären. Ich bin überzeugt, daß sich so ein sehr wünschenswerter Dialog in Mitteleuropa entwickeln kann, den vielleicht einst der ungarische Philosoph István Bibó im Sinn hatte, als er schrieb: "Eine wirkliche Demokratie und eine wirkliche Versöhnung tritt unter diesen Völkern erst dann ein, wenn sie zum ersten Mal gemeinsam ihre eigene, gegenseitige Verwahrlosung benennen."

Ein westliches Publikum, ein westliches Forum kann in einem solchen Dialog eine wichtige Rolle spielen. In der Vergangenheit suchten die mitteleuropäischen kleinen Völker im Westen für gewöhnlich einen großen Onkel mit einem großen Stock für die Unterstützung ihrer Prätentionen gegenüber ihren Nachbarn. Heute bewegen sich die entwickelten, fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften aber in einem eher neutralen, gerechten Milieu und besitzen die Fähigkeit, Probleme von aussen zu beurteilen. So können sie zum Abbau von Konflikten in Mitteleuropa kraftvoll beitragen.

I.

Im folgenden möchte ich politische Handlungen der tschechischen Gesellschaft beschreiben, die zu Konflikten mit Nachbarn geführt haben. Meine Ansicht ist verhältnismäßig kritisch gegenüber der meiner Landsleute. Zugegebenermassen ist dies bei uns nicht üblich, ich stehe jedoch mit meinen Ansichten in meiner Heimat auch nicht völlig isoliert da.

(1) Historische Voraussetzungen: nach der Vernichtung des alttschechischen Ständestaates im 17. Jahrhundert sind nunmehr alle seine politische Strukturen abgestorben. Infolgedessen existierte gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts - im Unterschied zu Polen und Ungarn - kein tschechisches Volk im Sinne eines politischen Volkes. Es gab damals nur eine tschechisches Ethnie, die innere Gebiete der Länder der Wenzelskrone bewohnte, Bauern sowie ärmere Gesellschaftsschichten in den Städten. Während der Entwicklung des mitteleuropäischen Nationalismus, eingeleitet durch die Deutschen, vollzog sich dann eine gewisse Rekonstruktion der tschechischen Gesellschaft. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Tschechen zu einem politischen Volk im modernen Sinne des Wortes, doch blieb eine gewisse Verletzung, eine Deformation. Man spricht bei uns über tschechisches Plebejertum und ist versucht, ihm demokratische Eigenschaften zuzuschreiben. Das ist jedoch nur eingeschränkt möglich.

Auf der einen Seite war es führenden Persönlichkeiten der tschechischen politischen "Wiedergeburt" gelungen, die tschechische Politik auf den liberalen und demokratischen Ideen der Neuzeit aufzubauen und eine Tradition des Kritizismus zu entfalten. Sie scheuten es z. B. nicht, die tschechische historische Tradition von romantischen Fälschungen zu befreien und –siegreich- einen bemerkenswerten Kampf gegen den Antisemitismus in der tschechischen Gesellschaft zu führen. Auf der anderen Seite führte das historisch bedingte Zusammenleben der Länder der böhmischen Krone, insbesondere unter Berücksichtigung der grossen deutschen Bevölkerungsanteile (7 Millionen Tschechen, 3 Millionen Deutsche) zu einem tiefen, fortgehend eskalierenden nationalen Konflikt, in dem sich beide Seiten tödlich bedroht fühlten. Diese gespannte Situation, das allgemein geteilte Gefühl einer tödlichen Bedrohung wurde bei den Tschechen zur Quelle falscher nationaler Ideologien. In der früheren Phase der politischen Entwicklung herrschte innerhalb der tschechischen gebildeten Bevölkerungsschicht die Überzeugung, daß die Tschechen, und allgemein alle Slawen, vom Ursprung an tief demokratisch sind, und daß sie das, was andere Völker mühsam erarbeiten mußten, sozusagen in ihren Genen trägen. Diese seltsame Ideologie hat dem Angriff der neueren tschechischen historischen Wissenschaft nicht standgehalten. Viel gefährlicher war die modernere Variante, die mit der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik im Jahre 1918 entstanden ist. Die ČSR wurde mit Unterstützung der Siegermächte gegründet und sollte Teil des von Frankreich geplanten und gegen eventuelle deutsche Gefahren gerichteten Sicherheitssystemes werden. Daraus enstand das Selbstbild der Tschechen als Bastion der Demokratie und der westlichen Zivilisation in der mitteleuropäischen Wüste. Hier liegt der Ursprung der angeblichen tschechischen Erstklassigkeit, die sich später im ehemaligen tschechischen Ministerpräsidenten V. Klaus verkörperte.

Diese Ideologie hat einen - freilich nur ganz bescheidenen - realen Keim: den tschechischen Politikern ist es gelungen, an die relativ fortschrittliche liberale österrreichische Verfassungstradition anzuknüpfen und dabei mehrere veraltete, reaktionäre Züge der Monarchie auszulassen. Es war das Gefühl der tödlichen Bedrohung von Seiten der Deutschen und von denen, die angeblich bestrebt waren, Österreich-Ungarn wieder zum Leben zu wecken, das zu dieser nationalen Politik, die die tschechoslowakische Demokratie wesentlich behinderte, den Staat schwächte und innerlich bedrohte und die Tschechen mit allen Nachbarn verfeindete, führte. Nach der kurzen, aber blutigen Episode der deutschen Okkupation (1939 - 45) erhob sich in der tschechischen Gesellschaft eine mächtige Welle der Revanche, die schon vorher existierende Probleme in fast unlösbare verwandelte. Diese Probleme sind dann in der Periode der russischen Herrschaft durch eine eisige Kruste überdeckt worden. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums lebten sie wieder auf und entwickelten sich zu einer mächtigen Quelle der Unruhe in der tschechischen Gesellschaft.

(2) Das tschechisch-deutsche Problem: Die Deutschen lebten seit dem 13. Jahrhundert im Gebiet der historischen böhmischen Länder. Ihre Basis wurde im Verlauf der Zeit immer stärker, erst im 19. Jahrhundert hat sich dieser Trend umgekehrt. Die politische Kommunikation unter der tschechischen und der deutschen Bevölkerungsgruppe wurde in dieser Zeit immer schwieriger und in den letzten Jahrzenten der Existenz von Österreich-Ungarn praktisch unmöglich. Die ČSR wurde als ein Nationalstaat der Tschechen und Slowaken gegründet, andere Völkergruppen - auch die 3 Millionen Deutschen - galten als "Minderheiten". Sie durften an der Vorbereitung der tschechoslowakischen Verfassung nicht mitwirken. Weiterhin hat der tschechoslowakische Präsident Masaryk sie als "Emigranten und Kolonisten" bezeichnet, d. h. als zweitrangige Bürger. Die Zeit des Anschlusses der deutschen Gebiete an den neuen Staat wurde von Unruhen begleitet, die 1919 in blutigen Auseinandersetzungen mit dem tschechoslowakischen Militär gipfelten, unter der deutschen Zivilbevölkerung gab es auch Todesopfer.

Die Deutschen hatten in der ČSR individuelle Rechte, wurden jedoch nicht als Kollektivum betrachtet und hatten keine Selbstverwaltung als Volksgruppe. Mitte des 20. Jahrhunderts teilte sich die deutsche politische Vertretung in der ČSR in zwei Gruppen. Die größere, die sogenannten "Aktivisten" beteiligten sich bis 1937 in Regierungskoalitionen, jedoch ohne höherrangige Ämter zu bekleiden. Ihre Beteiligung bedeutete an sich keine wesentliche Veränderung der Lage der deutschen "Minderheit" in der ČSR. In den dreißiger Jahren, als die deutsche Industrie in der ČSR starke Wachstumssrückgänge verzeichnete und in Deutschland Hitler an die Macht kam, entfaltete sich in der ČSR unter den Deutschen eine starke Emanzipationsbewegung, die allmählich unter den direkten Einfluß von Nazi-Deutschlad gelangte. In Zusammenarbeit mit Hitler ist es ihr daraufhin gelungen, die Trennung der deutschen Gebiete von der ČSR und den Anschluß dieser an Deutschland durchzusetzen. Nach der Wiederherstellung der ČSR 1945 hat die frustrierte tschechische Politik radikale Maßnahmen durchgesetzt: die Deutschen wurden (mit wenigen Ausnahmen) total enteignet und aller Bürgerechte beraubt (Entrechtung und Entraubung wurde in Gesetzesnormen verankert) und dann gewaltsam ins vernichtete Deutschland ausgesiedelt. Der Aussiedlung haben die Siegermächte (Sowjetrussland, Großbritannien und die USA) in Potsdam zugestimmt. Dieser schon an und für sich unbarmherziger Gewaltakt wurde von der tschechischen Seite durch außerordentlich abscheuliche Massenverbrechen an der wehrlosen deutschen Zivilbevölkerung begleitet. Danach sind im Land nur ungefähr 200 000 Deutsche geblieben, ein Teil von ihnen emigrierte später nach Deutschland, ein Teil wurde tschechisiert. Der jetzige Anteil der deutschen Minderheit in der ČR beläuft sich auf etwa 50 000 Menschen.

Diese Ereignisse wurden allmählich auch für die tschechische Gesellschaft zum Alptraum. Nach dem Umsturz in 1989, als sich die Möglichkeit eröffnete, über die Geschehnisse öffentlich frei zu sprechen, entstanden in Böhmen völlig realitätsferne Rechtfertigungsideologien, z. B.: das, was damals geschah, sei aus heutigem Standpunkt betrachtet ungerecht, aber im damaligen Kontext sei es in Ordnung gewesen. Jede grundsätzliche Verurteilung der Vertreibung der Deutschen sei angeblich falscher "Präsentismus" und alle, die in der ČR diesen verurteilenden Standpunkt verträten, seien bezahlte Agenten Deutschlands. Das unreflektierte schlechte Gewissen der Tschechen und eine uneingestandene Angst vor Vergeltung von Seiten Deutschlands sind nur einige der Faktoren, die z. B. für ein verhältnismäßig niedriges Bestreben innerhalb der tschechischen Gesellschaft nach öffentlicher Unterstützung für den Eintritt in die NATO verantwortlich sind.

(3) Das tschechisch - polnische Problem: Zu den historischen "Ländern der böhmischen Krone", die die Tschechen für sich in Anspruch genommen haben, gehörte auch das sogenannte "österreichische Schlesien". Sein östlicher Teil, das Fürstentum Teschen, wurde vorwiegend von Polen bevölkert. Sowohl die Tschechen, als auch die Polen hatten nach dem ersten Weltkrieg Anspruch auf dieses Gebiet erhoben. Die Tschechen haben ihren Anspruch staatsrechtlich begründet (das Gebiet gehörte einst zum tschechischen Staat), die polnischen Gründe hatten einen naturrechtlichen Charakter. Der eigentliche Grund der Tschechen bestand jedoch darin, dass hier große Kohlenlager lagen und das außerdem durch den Teschener Bezirk die damals einzige Eisenbahnlinie führte, die die böhmischen Länder mit der Slowakei verband. Unmittelbar nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie besetzten die Polen nach Verhandlungen mit Vertretern der teschener Tschechen den ethnisch polnischen Teil des Gebietes. Einige Monate später nutzte dann die tschechische Seite die durch den Konflikt mit dem bolschewistischen Russland bedingte Abstinenz der Polen und besetzte fast das gesamte bestrittene Gebiet militärisch. Dieser kleine Kriegszug hatte heftige Proteste der Siegermächte zur Folge. Danach wurde das Gebiet durch eine Arbitrage der Entente geteilt, wobei im Grunde die tschechischen Interessen bevorzugt wurden. So gerieten etwa 75 000 Polen in die ČSR. Eine der Konsequenzen war die Teilung der Stadt Teschen - die südliche Vorstadt mit dem Bahnhof geriet in tschechische Hände. Dieser Konflikt, insbesondere das tschechische Verhalten, hat die Beziehungen zwischen der ČSR und Polen wesentlich verschlechtert. Nach dem Münchener Abkommen 1938 eroberten die Polen das Gebiet. Nach Kriegsende ist es den Tschechen aber gelungen unter russischem Patronat den Vorkriegszustand wieder herzustellen. Vergeltungsaktionen gegenüber der polnischen Minderheit wurden unter russischem und polnischen Druck gestoppt.

Das Problem ist bezüglich der Ernstlichkeit mit dem tschechisch-deutschen nicht zu vergleichen, die Tschechen haben jedoch auch hier keinerlei Grund dazu, stolz zu sein.

(4) Das tschechisch-ungarisches Problem: Die ungarische politische Vertretung war in der ČSR immer eine dominierende Kraft. Daher trägt sie auch Verantwortung für die Art und Weise, wie man die Ungarn in der ČSR behandelt hat.

Nach dem Anschluß der von den Slowaken bewohnten Gebiete zum neuen Staat 1918 entstand die Frage nach der Ziehung der Südgrenze der Slowakei. Das von den Slowaken bewohnte Gebiet stellte während des historischen ungarischen Königtums nie eine Verwaltungseinheit dar. Durch Eingreifen der tschechischen Politiker wurde hier eine "strategische" Grenze (im Süden an der Donau) durchgesetzt. Grund dafür war die Furcht der tschechischen Politik vor dem ungarischen "Revisionismus" (vor dem Bestreben, das ungarische Königtum in seinen historischen Grenzen zu erneuern). So wurden circa 750 000 Ungarn in den neuen "tschechoslowakischen" Staat eingegliedert. Es gab damals slowakische Politiker, die geneigt waren, die ethnische slowakisch-ungarische Grenze als Demarkationslinie zu bevorzugen - ich sage es nur, um den tschechischen Anteil klarzumachen. Durch die Erste Wiener Arbitrage im Jahre 1938 wurden die von den Ungarn bewohnten Gebiete zurück an Ungarn gegeben, nach dem Kriegsende wurde aber auch hier der Vorkriegszustand wiederhergestellt. Die hier lebenden Ungarn wurden ebenso bestraft, wie die Deutschen (Beschlagnahme des Eigentums, Entrechtung). Was jedoch die Vertreibung der Ungaren betrifft war die tschechische Politik erfolglos - die westlichen Alliierten waren entschieden dagegen. Statt dessen wurde der sogenannte Bevölkerungsaustausch durchgesetzt (für jeden in Ungarn lebenden Slowaken, der sich freiwillig entschieden hat, in die ČSR umzuziehen, wurde ein in der Slowakei lebender Ungar gewaltsam ausgesiedelt) sowie ein vorübergehender, aber gesetzlich zeitlich unbegrenzter "Totaleinsatz" der Ungarn in tschechischen Gebieten (nur ein Teil der so Eingesetzten konnte später heimkehren). Erst nach dem kommunistischen Putsch 1948 wurden die Menschen- und Eigentumsrechte der Ungarn in der ČSR formell restituiert, selbstverständlich nur in dem geringen Ausmaß, der den Gewohnheiten des russischen kommunistischen Imperiums entsprach.

(5) Das tschechisch-slowakische Problem: die enge Verwandschaft der tschechischen und der slowakischen Sprache, sowie die Tatsache, daß in der Vergangenheit viele Slowaken die tschechische Sprache als Schriftsprache verwendeten, brachte die Tschechen dazu, die Slowaken nur als einen Zweig des tschechischen Volkes zu betrachten. Die Konstituierung des slowakischen politischen Volkes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löste deshalb in Kreisen tschechischer Intellektueller Empörung aus: die Tschechen fühlten sich geschwächt und verraten. Die Slowaken wurden besonders gegen Ende des vorigen Jahrhunderts und dann bis zum ersten Weltkrieg in Ungarn stark unterdrückt. Deshalb ist die slowakische politische Führung 1918 dem tschechischen Angebot gefolgt und willigte ein, einen gemeinsamen Staat zu bilden. Es wurde ein fiktiver gemeinsamer politischer tschechoslowakischer Staat konstruiert. Dieser beinhaltete zwei Volksteile, die zwei verschiedene, aber ebenbürtige Versionen der tschechoslowakischen Staatssprache sprachen. Zugleich wurde den Slowaken von der tschechischen Seite unverbindlich eine Selbstverwaltung versprochen, die sich aber bis 1938 nicht realisierte. Das faktische Übergewicht der in allen Hinsichten stärkeren tschechischen Gesellschaft bewirkte, daß die Slowaken nie ebenbürtige Partner im gemeinsamen Staat wurden. U. a. auch aus diesem Grunde ist es nicht gelungen, die im Grunde utopische Idee eines gemeinsamen politischen Volkes zu realisieren. Die slowakische Emanzipierungsbestrebung hat sich in einer politischen Partei verkörpert. Erst nach dem Münchener Abkommen wurde die Slowakei als autonom anerkannt, 1939 bildete sie mit dem Einverständnis Hitlers einen formell selbstständigen Staat. Während des Krieges haben sich kommunistische und demokratische Kreise der slowakischen Gesellschaft entschieden, den Bund mit den Tschechen zu erneuern, was dann auch nach Kriegsende realisiert wurde. Jetzt wurden die Slowaken im Rahmen der ČSR weitgehend autonom. Die Ideologie eines gemeinsamen Volkes löste sich im Nichts auf. Die Emazipierungbestrebungen der Slowaken wurden damals von den Kommunisten unterstützt, die sich dadurch eine gute Position in der Slowakei zu erwerben erhofften. Die tschechischen nicht-kommunistischen Parteien verhielten sich gegenüber den slowakischen Bestrebungen dagegen ablehnend und feindlich. Sie träumten von der Erneuerung des "Tschechoslowakismus". Die Lage hat sich nach den Wahlen in 1946 dramatisch geändert: in diesen Wahlen hat die slowakische Gesellschaft (im Unterschied zu der tschechischen) den Kommunismus entschieden abgelehnt. Daraufhin änderten die Kommunisten ihre Politik gänzlich und versuchten die slowakische Autonomie womöglich zu beschränken. In den nicht-kommunistischen tschechischen Parteien fanden sie willige und eifrige Verbündete. Gemeinsam ist es ihnen gelungen, die wichtigste slowakische Partei, die Demokratische Partei, noch vor dem kommunistischen Putsch 1948 zu schwächen und zu paralysieren. Nach dem Putsch waren dann die tschechischen Nicht-Kommunisten an der Reihe. Dies ist vielleicht das traurigste Kapitel des historisch kurzen tschechisch -slowakischen Zusammenlebens. Die Rolle, die dabei die tschechische Politik spielte, kann man kaum anders als schändlich bezeichnen.

III.

In welcher Weise werden diese Probleme in der heutigen tschechischen Gesellschaft wahrgenomen?

Man glaubt allgemein, daß das tschechisch-ungarische Problem durch die Trennung des Staates erledigt ist, daß es nun vielmehr ein historisches Thema ist, welches ausschließlich die Slowakische Republik betrifft. Die Ungarn in der Slowakei sah ein durchschnittlicher Tscheche schon immer als etwas Exotisches was er nicht verstand und auch nicht verstehen wollte. Dennoch hat bei uns eine schwache, aber doch lebendige Angst vor einer ungarischen Gefahr überlebt. Gerade darin spiegelt sich das schlechte tschechische Gewissen wider. Auch die offensichtliche Geringschätzung einer Zusammenarbeit mit Ungarn, die der ehemalige tschechische Premier Klaus immer offenbart hat, kann man auf diese Weise erklären. Das tschechisch-polnische Problem wird bei uns im Allgemeinen eher als regionale Frage für Nordmähren betrachtet. Über den Ursprung und Veraluf des Konfliktes herrscht ein totaler Mangel an Information . Zurzeit weckt die Situation der polnischen Minderheit in der ČR keine dramatischen Spannungen in der tschechisch-polnischen Beziehung, die übrigens zuletzt außerordentlich gut war. Dennoch schätzte man noch bis vor einigen Jahren auch Polen als angeblich zurückgebliebenen Nachbarn allgemein eher gering. Diese Lage hat sich erst radikal zum Guten gewendet als die Tschechen erkannt haben, daß nicht die ČR, sondern Polen für den Westen der Partner Nummer eins in unserer Region ist.

Das tschechisch-slowakische Problem dagegen ist zurzeit sehr lebendig, es wurde von der jetzigen slowakischen Regierung aus praktischen Gründen in gewissem Sinne ausgenutzt. Dies spielte sich bisher jedoch eher auf ideologischer und rhetorischer Ebene ab. Die Tschechen sind durch die Trennung der ČSFR auf eine bei den Protektoren gewohnte Weise frustriert und beleidigt (wir haben so viel Gutes für sie getan, und sie haben sich so undankbar benommen!). Dieses Gefühl hat nach der Trennung auch gewisse politische Kreise beherrscht und dort zu sprichwörtlichen Orgien unbewussten Chauvinismusses geführt. Wenn der jetzige slowakische Ministerpräsident behauptet, in der ČR führte man eine Verleumdungskampagne gegen die Slowakei, dann muß man leider zugeben, daß dies keine bloße Lüge ist.

Anders stehen die Dinge beim tschechisch-deutschen Problem. Das riesige Ausmaß des "Transfers" (Millionen von Menschen, mindestens Zehntausende von Ermorderten, das konfiszierte Eigentum umfasste eine monströse Summe von mehr als Hundertmilliarden DM) ruft in den breiten Schichten der tschechischen Gesellschaft Stress und Spannung, eine hysterische Angst vor möglichen Reparationen (man sieht nicht die faktische Irrealität einer solchen Lösung) und vor der Rückkehr der Vertriebenen (man sieht nicht, daß eine Massenrückkehr aus verschiedenen Gründen nicht in Betracht kommt) hervor. Diese Angst mündet in irrationellem Handeln: die tschechische politische Führung hat es abgelehnt, unmittelbar mit den Betroffenen (d. h. mit den Organisationen der Vertriebenen) zu verhandeln. Statt dessen wurde eine tschechisch-deutsche politische Deklaration ausgearbeitet, die u. a. eine gemeinsame Bewertung der Vergangenheit enthalten sollte. Nach der Unterzeichnung und Abstimmung der Erklärung hat sich jedoch herausgestellt, daß an der entscheidenden Stelle - Verurteilung der Vertreibung der Deutschen als Ganzes beziehungsweise nur Verurteilung der sogenannten Exzesse (unmenschliches Handeln während der Vertreibung)- die tschechische und die deutsche Seite den Text anders interpretieren. (Die Tschechen bestehen darauf, daß es sich nur um Verurteilung der "Exzesse" handelt). Diese Frustration und das uneingestandene Schuldbewußtsein führen zu inneren Problemen der tschechischen Gesellschaft mit der Integration in den Westen (dem jetzt auch Deutschland unproblematisch angehört).

IV.

Die letzte zu behandelnde Frage ist die nach der politischen Überwindung des jetzigen Zustandes, also das eigentliche Thema meines Beitrages, "en quoi la mémoire collective des Tchćques pourrait-elle primer la réconciliation sur la méfiance ou l°intolérance". In letzter Konsequenz handelt es sich um eine Aufgabe für die tschechische Politik. Diese muß jedoch in breiter Reflexion vorbereitet werden, in einem Gespräch, an dem verantwortliche Leute von uns teilnehmen müssen und dessen Ziel die Überzeugung der Öffentlichkeit sein wird. Eigene Schulden anzuerkennen ist immer schwer; es handelt sich hier jedoch nicht um eine selbstquälerische Geste, sondern vielmehr um einen natürlichen Erkenntnissprozess, der in eine gerechtere Selbstauffassung der tschechischen Gesellschaft münden soll.

Dieser Prozess muss zur Formulierung eines öffentlichen und politisch repräsentativen Standpunktes führen, der Bedauern oder zumindest eine Entschuldigung beinhaltet und sich an die Betroffenen wendet.

Über eventuelle weitere Schritte soll die tschechische politische Führung direkt mit den Betroffenen verhandeln. In diesem Gespräch wird sich herausstellen, was noch zu lösen ist. Praktisch handelt es sich hier vor allem

Um ganz aufrichtig zu sein, muß ich zugeben, daß es sich meiner Meinung nach in diesen Fällen im Grunde nur um eine "Milderung der Folgen von geschehenem Unrecht" handeln kann, und dass die Entschädigung vor allem eine symbolische Geste der Versöhnung sein muss.

Vorgetragen auf der Konferenz der OCIPE „Das kollektive Gedächtnis der europäischen Völker und Aufbau Europas“ im Sitz des Europa-Parlamentes in Stassbourg 29. januar 1998