Stellvertreterproblem Temelín

Standard: In den Beziehungen zwischen Österreich und Tschechien ist es in den vergangenen Monaten zu einer Verschlechterung gekommen. Wo liegen die Gründe dafür?

Doležal: Ich war 1990-92 Abgeordneter, dann ein Jahr lang Chefberater von Premierminister Václav Klaus, konnte also an zahlreichen offiziellen Gesprächen mit österreichischen Politikern teilnehmen. Deshalb weiß ich, dass schon damals Temelín ein Problem war und bei unseren Begegnungen mit dem damaligen Kanzler Vranitzky und Bundespräsident Klestil ebenfalls auch über die so genannten Beneš-Dekrete (rechtliche Grundlage für Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen und Südmährer nach Kriegsende, Red.) gesprochen wurde. Es war unser Fehler, dass wir diese Themen in ihrer Wichtigkeit stark unterschätzt haben.

Standard: Ist Temelín zu einer Art nationalem Symbol gegen alle Versuche geworden, von außen nach Tschechien hineinzuwirken?

Doležal: Das ist aber leider auch in Österreich passiert, wo Temelín zu einem Stellvertreterproblem wurde. Aus einer Angelegenheit für Fachleute ist ein Politikum geworden. Ich zweifle gegenwärtig nicht am guten Willen von Kanzler Schüssel. Aber man muss auch sagen, dass dieser Konflikt unter seiner Mitwirkung eskalierte, und es wird somit sehr schwer werden, ihn abzuschwächen.

Standard: Man hat das Gefühl, dass in den letzten Monaten in Tschechien mehrfach unterschwellig versucht wurde, den alten Habsburg-Komplex ins Spiel zu bringen. Soll hier aus schlummernden Ressentiments politisches Kleingeld herausgeschlagen werden?

Doležal: Ich denke prinzipiell, dass alle kleinen Völker sehr viele Minderwertigkeitskomplexe haben. Es ist unbestreitbar, dass die Problematik rund um Temelín solche unsachlichen Aversionen und Stereotype hervorgerufen hat. Der einzige Weg, der aus diesem Kreis führt, ist zu versuchen, alles auf eine sachliche Ebene zu stellen.

Standard: Sie gehören zu den Autoren der Unterschriftenaktion „Wir bedauern“, deren Unterzeichner sich für die Vertreibung der Sudetendeutschen entschuldigen. Im Gegensatz zu früher war jedoch das Medienecho sehr gering. Woran liegt das?

Doležal: Es ist mir bis heute nicht gelungen, den Text dieses Aufrufes in die Presse zu bekommen. So blieb mir nichts anderes übrig, als ihn auf meiner Homepage (www.bohumildolezal.cz) zu veröffentlichen. Bisher stehen rund 150 Namen unter dem Text. Das ist zwar keine berauschend große Zahl, aber sie ist jetzt schon größer, als es ähnliche Initiativen in der Vergangenheit schafften.

Standard: Warum liest man in tschechischen Zeitungen seit geraumer Zeit über die Vertreibung so wenig?

Doležal: Es gibt wieder vermehrt Versuche, dieses Thema zu verschweigen. Allgemein scheint die Meinung von Václav Klaus vorzuherrschen, nämlich: „Die Vertreibung war zwar nichts Schönes, aber das Ganze ist nun einmal passiert und kann nicht geändert werden. Wir wollen jetzt nach vorne blicken“.

Standard: Sind die Beneš-Dekrete wirklich mit einer EU-Mitgliedschaft Tschechiens unvereinbar?

Doležal: Ich bin fest davon überzeugt, dass kein westeuropäisches Land solche Gesetze hat und noch dazu, so wie hier in Tschechien, behauptet, diese Normen seien Grundpfeiler der staatlichen Ordnung. Was können wir also machen? Wir können die Dekrete ex nunc (mit Wirkung ab jetzt, Red.) aufheben und verkünden, dass alle rechtlichen Schritte, die damals aufgrund der Dekrete geschahen, leider nicht aufgehoben werden können. Es geht darum, die Dekrete, durch die die Sudetendeutschen ihres Eigentums und ihrer Menschenrechte beraubt wurden, ex nunc aufzuheben, und das müsste ohne weiteres möglich sein.

Der Standard, Donnerstag, 19. Juli 2001