Tschechien: Warum die Kommunisten wieder aufholen

Wenn man die politische Lage in der Tschechischen Republik jetzt analysiert, muss man zuerst über das Positive berichten, das sich in zehn Jahren nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft entwickelt hat.

 

Gleich nach dem Umsturz 1989 wurden der Bevölkerung grundlegenden Bürgerrechte, Versammlungs- und Redefreiheit, Freiheit des Besitzes und Unternehmertums garantiert. Diskriminierende Barrieren, die nicht alle, aber einen beträchtlichen Teil der Bürger behinderten, wurden abgeschafft.

Das Land hat den Charakter eines großen Gefangenlagers verloren, und eine gründliche Demilitarisierung des öffentlichen Lebens spielte sich ab. Der Geist der Freiheit drang allmählich in Medien und Schulen durch. Zu den Erfolgen muss man unbedingt auch die friedliche, zivilisierte Teilung der Tschecho-Slowakei rechnen. Eine Grundbedingung dafür, dass sich die Tschechen in die Familie der europäischen Völker als problemloser Partner eingliedern konnten (was in Jugoslawien nicht gelang).

Im Alltagsleben kam es zum Übergang vom „kaum eigenverantwortlichen Komfort des relativ gut genährten Untertanen“ zur „riskanten Unbequemlichkeit des eigenverantwortlichen Bürgers“.

Das zeigt sich auch an der Fassade des Landes: Das hoffnungslose Grau des Alltagslebens im „realen Sozialismus“ ist vielfach weg. Die tschechischen Städte – für die Dörfer gilt dies leider nicht – nahmen auch äusserlich eine freundlichere, sauberere und hübschere Gestalt an.

Hinter der Fassade

Man darf das grundsätzlich Positive dieser Veränderungen nicht leugnen. Zugleich muss man jedoch zugestehen: Diese Entwicklung ist in eine Krise geraten. Die Signale dieser Bedrohung sind schon eine Zeit lang spürbar, jetzt kann man sie nicht mehr übersehen. Es handelt sich um innenpolitische Entwicklungen, um eine gefährliche Vertrauenskrise in das nach 1989 entstandene politische System. Um Misstrauen.

Ich möchte dies an einem kleinen Beispiel demonstrieren. Das öffentlich-rechtlichte Fernsehen hat sich entschlossen, eine in der Zeit der kommunistischen Herrschaft entstandene Krimi-Serie zu senden, in der auch die schlimmsten Verbrechen des kommunistischen Sicherheitsdienstes auf eine unverschämte Weise glorifiziert sind. Die Leitung des Fernsehns wurde dabei von der Tatsache bestärkt, dass 80 Prozent der TV-Zuschauer die Fortsetzung dieser Serie verlangten. Die Proteste der ehemaligen politischen Häftlinge waren vergeblich.

Diese Episode zeigt eine tiefe Enttäuschung über die Entwicklung, und man denkt rückwärts: Nach Meinungsumfragen steigen unaufhörlich die Präferenzen für die Kommunisten. Dabei ist die KSČM nicht post-kommunistisch, sondern eine alte, orthodox-kommunistische Partei. Aber im Meinungsbild der Bevölkerung hat sie schon die regierenden Sozialdemokraten überholt.

Was sind die Gründe für diese kommunistischen Nostalgie? Im politischen Bereich ist das in erster Linie der Misserfolg der Tschechischen Sozialdemokratie (ČSSD). Sie trat in der letzten Wahlkampagne an mit der Ideologie des scharfen Abrechnens mit der vorangegangenen Regierung von Václav Klaus – die nach Überzeugung der Sozialdemokraten den „Raum für wirtschaftliche Diebe und Hochstapler“ freigemacht habe.

Aber die ČSSD erwies sich dann als unfähig, im Abgeordnetenhaus eine Mehrheit zu erreichen. Seitdem regiert sie nur dank der Toleranz ihres größten Konkurrenten, der ODS von Klaus, mit der sie abrechnen wollte.

Das geschieht gemäss „Oppositionsvertrag“, den die beiden großen Parteien 1996 geschlossen haben. Darin verpflichtet sich die ODS, keine Vertrauensabstimmung gegen die sozialdemokratische Regierung von Ministerpräsident Zeman einzubringen. Dafür wurde Klaus Parlamentspräsident und so weiter.

Weil diese beiden aneinandergeketteten Parteien auch über die Verfassungsmehrheit verfügten, haben sie Veränderungen in den Vollmachten des Staatsoberhauptes und des Wahlsystems vereinbart. Der Sinn dieser Veränderung sollte sein, die kleineren Parteien aus dem politischen Schauplatz zu eliminieren, und die Möglichkeiten eines politischen Eingreifens des Präsidenten sollten beschränkt werden.

Der „Oppositionsvertrag“, war nach den Wahlen 1996 ein Notausweg aus einer Situation, in der keine politische Gruppierung imstande war, im Parlament eine Regierungsmehrheit zu finden.

Der geschlagene frühere Ministerpräsident Klaus mag sich beim „Oppositionsvertrag“ auch gedacht haben: Ermöglichen wir erst einmal der Sozialdemokratie die Regierungsbildung, um danach jedes effektive Regieren zu blockieren – eine Applikation des problematischen Grundsatzes: „Je schlimmer, desto besser“. Aber es hat dieser politische Zynismus der ODS keinen Nutzen gebracht. Die Präferenzen der ČSSD sinken zwar, aber die der ODS stagnieren. Lachender Dritter sind die Kommunisten.

Größter Verlierer ist die Vertrauenswürdigkeit der Politik allgemein.

Das schafft Platz für neue, beunruhigende Signale, für Politiker mit beliebigen „Programmen“, für Show statt Inhalt, in der Folge für den Eindruck, die Macht liege auf der Straße, es genügt sie aufzuheben. In dieser Lage könnte das gefährliche Begehren nach einer starken Hand im Staat erfolgreich sein.

Problematisch am „Oppositionsvertrag“ war auch, dass die beiden größten Parteien ein „politisches Kartell“ gegen die kleineren Parteien bildeten. Sie sollten als Konkurrenz und Zünglein an der Waage ausgeschaltet werden. Der Oppositionsvertrag war deshalb nicht ein Abkommen über politische Inhalte und Reformen, sondern über diese Form des Regierens.

Das hat das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik untergraben, und es tauchte eine unter dem Kommunismus entstandene Ansicht auf: „Die Politik ist eine Schweinerei“. Das zeigt sich auch in Meinungsumfragen.

Die geplante Wahlreform soll zudem das politische Kartell der großen Parteien auch noch vertiefen und verewigen: Die jetzt sieben Wahlbezirke im ganzen Land werden auf 36 vermehrt, in denen es je um 5 bis 6 Direktmandate geht. Die Kleinen werden es unendlich schwerer haben. Praktische Folge wird eine weitere „Barbarisierung“ der politischen Verhältnisse sein: Denn Grundforderung in einer sich entwickelnden pluralistischen Demokratie wäre, dass der Weg von der Minderheit zur Mehrheit immer offen bleibt. In diesem Zusammenhang ist auch die geplante Beschränkung der Vollmachten des Staatspräsidenten zu beachten, wenn man dabei seine der tschechischen Verfassungsidee entsprechende regulative, versöhnende, ausgleichende Rolle untergräbt.

Die jetzige Frustrierung der tschechischen Gesellschaft hat auch historische Wurzeln: Zuvorderst geht es darum, dass wir jetzt Illusionen über uns verlieren, die ohnehin nicht angemessen waren: Die Gründung des tschechoslowakischen Staates 1918 wurde von einer selbstbewussten, optimistischen Stimmung getragen. Ihre wichtigsten Momente:

Tschechische Illusionen

Daraus folgte ein schmeichelndes Selbstporträt der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei als einer Insel der Demokratie und Prosperität inmitten des zurückgebliebenen Mitteleuropa. Diese Selbstauffassung enthielt gewisse reale Ausgangspunkte, war aber vereinfacht und schrecklich übertrieben: So entstand der „Mythos der tschechischen Vorzüglichkeit“, mit dem die Tschechen wohl die sechs Jahre der deutschen und die fünfzig Jahre der russischen Okkupation überstanden haben.

Nach dem Umsturz 1989 ergriff diese träumerische Einschätzung neuen Besitz von den Tschechen: Politisch nutzten sie zuerst die Dissidenten der ersten Welle. In der Politik zur Vollendung gebracht wurde diese Haltung jedoch erst durch Václav Klaus. In seinen Händen bekam sie „wissenschaftlichen“ Charakter: Durch Einführung der freien Marktwirtschaft, wozu wir die besten Voraussetzungen hätten, werde die ganze tschechische Gesellschaft gesünder und stärker. Die Tschechen sahen sich danach wieder einmal hervorragend unterschieden von ihren Nachbarn, den Polen, Ungarn und Slowaken. Ja sie sahen sich wirtschaftlich und politisch schon fast EU-reif. Von diesem Punkt aus noch ein Rückblick: Im eigentlichen letzten Krieg bei uns, dem kalten Krieg, haben wir uns freiwillig auf die falsche Seite gestellt. Und wir haben von unserem Protektor, von Stalin-Russland erwartet, dass er uns Gerechtigkeit und Schutz geben wird. Und zwar kostenlos. Als sich erwies, dass die Russen weder fähig noch bereit sind, eine solche altruistische Rolle zu spielen, haben wir 1968 versucht, auf die richtige Seite der Front überzuspringen. Dieser unkonsequente Versuch endete mit einem Fiasko.

Die tschechische Gesellschaft hat nämlich während der vierzig Jahre sowjetkommunistischer Herrschaft einen grundsätzlichen Wandel durchgemacht. Sie hat sich in eine bipolare Gesellschaft verändert, wo auf einer Seite der entrechtete „Werktätige“ steht, auf der anderen der allmächtige Parteifunktionär. Die Aufgabe, zur europäischen, reich strukturierten Gesellschaft der freien Bürger zurückzukehren ist schwierig.

Das zeigte sich sofort bei der sogenannten Restituierung. Es handelt sich dabei um eine politische Frage, um Wiedergutmachung der Unrechte im Bereich des Privateigentums, die nicht erst das kommunistische Regime begangen hat. Per Gesetz hat man das Datum dieses Unrechts mit dem 25. Februar 1948 festgelegt, dem Tag des kommunistischen Putsches. Das ist heuchlerisch, denn das Unrecht hat schon 1945-47 begonnen: Als der schleichende Verfall der nur noch scheinbaren Demokratie vor sich ging und der Kommunismus vorbereitet wurde: Dieses geschah durch die erste „Nationalisierung“, der Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen sowie der Enteignung und Entrechtung der Ungarn in der Slowakei.

Die enttäuschten Erwartungen nach der Wende

Die Entwicklung in der Tschechischen Republik zeigt übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit der in den ostdeutschen Bundesländern. In Ostdeutschland wie in der Tschechischen Republik gibt es das Phänomen der enttäuschten Erwartung. Auch Hoffnungen, die die Bewohner der ehemaligen DDR in die Vereinigung Deutschlands gesetzt haben, wurden nicht erfüllt. Das hatte ein gewisses Gefühl der Ungerechtigkeit zur Folge. Ein Unterschied besteht aber darin, dass die Ostdeutschen mit der langjährigen russischen Okkupation die Rechnung für alle Deutschen bezahlt haben. Dagegen sind die Tschechen fast freiwillig ins „russische Reich“ einmarschiert.

Dazu kommt: Die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern wurde vom Westen Deutschlands streng überwacht. In der Tschechischen Republik war die Folge der unbegründeten Erwartung ein Leben auf Kredit, über unsere Verhältnisse. Die Ideologie der unsichtbaren Hand des freien Marktes unterstützte diese Unverantwortlichkeit. Das regulierte „Aufspeisen der Zukunft“, wie es die Kommunisten praktiziert haben, hat sich in ein unreguliertes verwandelt. Das ist eigentlich kein ökonomisches Problem, sondern eine Folge der Politik der Unverantwortlichkeit, der Jagd nach dem momentanen Erfolg.

In der Tschechischen Republik ist auch eine Vorstellung verbreitet, wonach Freiheit etwas ist, worauf man einfach ein Recht hat, das man in jedem Augenblick beanspruchen kann. In der Wirklichkeit ist aber Freiheit und Demokratie eine Form von Luxus. Etwas, wozu die Gesellschaft lange Zeit mühsam arbeiten muss.

Die Schlussfolgerung aus der Entwicklung bei uns nach dem November 1989 sollte deshalb sein: Wir haben bisher zu wenig gemacht, damit wir wirklich die Freiheit und Demokratie verdienen. Wir müssen noch viel nachholen.

ÖO Nachrichten, Nr. 236, Montag 11. Oktober 1999