Keine Kraft zur Veränderung

Tausendmal beerdigt, immer wieder auferstanden. Mit diesen Worten priesen in früheren Zeiten die kommunistischen Ideologen, dass der Sozialismus a la Breschnew quicklebendig ist. Es scheint, dass man nun, nach den Wahlen in Deutschland, etwas Ähnliches an die Adresse Gerhard Schröders richten kann. Noch vor einem Monat hätte niemand auch nur einen Pfifferling auf ihn gesetzt. Dennoch konnte er innerhalb weniger Wochen den zehnprozentigen Vorsprung der CDU/CSU fast auf null reduzieren. Schröder ist eine Art David Copperfield der deutschen Politik: Was er in seiner Regierungszeit verspielt hat, konnte er im Wahlkampf wieder hervorzaubern. Nur dass das Wahlergebnis, bei aller Bewunderung für den Kanzler, unerfreulich ist.

Beide starken Parteien, Pfeiler des politischen Systems in Deutschland, bekamen diesmal ordentlich zu beißen: Beide erzielten eines ihrer schlechtesten Ergebnisse in der Geschichte der Bundesrepublik. Erfolgreich war die FDP, aber was lässt sich daraus machen, wenn sie nicht mal ganz die Zehn-Prozent-Grenze übersprang? Dafür hat die deutsche Politik eine problematischere Bereicherung bekommen: Oskar Lafontaine hat der postkommunistischen PDS den Kopf gewaschen und führte sie erfolgreich in die Welt der alte Bundesrepublik ein.

Es sieht so aus, als ob die Deutschen von ihren tschechischen Nachbarn inspiriert wurden. Sie bekamen – bisher auf Probe, mit fast neun Prozent Unterstützung – eine aggressive Pseudolinke mit minimalem Koalitionspotential, wobei sich die Frage stellt, wovor man sich mehr fürchten soll: dass sie, ähnlich wie bei uns, ihren 20 Prozent erreichen wird, oder dass sich mit der Zeit ihr Koalitionspotential erhöht. Von der „tschechischen Inspiration“ scheint auch die immer größere werdende Kunst der Pattergebnisse zu zeugen, wobei das deutsche Verfassungssystem dem politischen Patt mehr Hindernisse in den Weg stellt als das tschechische. Und schließlich bleibt noch die Rolle der Meinungsforschungs-Institute: Kurz vor den Wahlen wandelten sie sich zu Instituten für die Verbreitung eines falschen Optimismus.

Dies muss man nicht überbewerten: Daraus folgt nur, dass auch die deutsche Politik in der Krise ist. Die Welt hat sich in den letzten 15 Jahren rasant geändert, und die deutsche Politik hat sich in merkwürdiger Art und Weise diesem Wandel angepasst. 40 Jahre lang lag die Bundesrepublik an der Frontlinie im Konflikt zwischen freier Welt und dem kommunistischen Russland. Es war zwar ein wilder Feind, aber auch ein feiger, fauler und nach allen Seiten unproduktiver. Darauf, dass Deutschland nicht in seiner physischen Kraft bedroht war, achtete schon der amerikanische Onkel. Und wie ein unschuldiger Sparringpartner auf dem Feld der Wirtschaft bot die UdSSR die idealen Bedingungen für die Entwicklung eines sozial abgefederten Kapitalismus.

Dann brach das sowjetische Imperium zusammen, und heute sieht sich die westliche Gesellschaft zwei Herausforderungen gegenüber: die des islamischen Terrorismus, dem man sich auf unterschiedliche Weise entgegenstellen kann, aber bestimmt nicht mit Feigheit. Und die der fleißigen, enthaltsamen ostasiatischen Länder, die oft den kostspieligen Bedarf an Freiheit nicht erfüllen. Was für ein Unterschied zu Breschnews Riesenreich!

Schröder reagierte auf die Veränderungen, indem er sich aus ihnen nur das Gute nahm. Und so kündigte er dem amerikanischen Onkel die Loyalität auf (der Kalte Krieg war ja schon zu Ende), und die „soziale Marktwirtschaft“ korrigierte er lediglich mit Teil-Reformen. Es ist eine Vogel-Strauß-Politik. Den Kopf in den Sand zu stecken, erhält meist die Unterstützung des Volkes. Konnte die Opposition dieser Politik eine wirkliche Alternative bieten und die Öffentlichkeit von ihrer Notwendigkeit überzeugen? Es sieht so aus, als ob es ihr nicht gelang.

Und was bedeutet dieses Wahlergebnis für Tschechien? Die tschechischen Politiker haben den Hang, über Veränderungen in Deutschland in paranoiden Stereotypen zu beraten: Gehen Sie uns an die Beneš-Dekrete? Werden sie die Sudetendeutschen unterstützen? Werden sie uns zwingen, in unserer problematischen Vergangenheit herumzuwühlen? Schröder hat verstanden, dass es keinen Sinn macht, mit den Tschechen über diese Dinge zu sprechen. Er entschied sich, unsere Schamlosigkeit als eine Art nationale Eigenschaft zu tolerieren. Dafür wollte er das deutsch-französische Diktat in der EU stärken, die Distanz zu den USA halten und über die Köpfe der kleinen erschrockenen mitteleuropäischen Kaninchen hinweg dem russischen Bären 1000 Küsse schicken.

Die neue deutsche Regierung wird schwach und nicht fähig sein, an dieser Politik etwas Grundlegendes zu ändern. So werden uns die Beneš-Dekrete erhalten bleiben. Um alles andere werden wir aber kommen. Kann man denn von den Beneš-Dekreten leben?

Prager Zeitung 19.9. 2005