Wie der Altar für Vogelfreie

Das Ergebnis der Wahlen kann in wenigen Worten zusammengefasst werden: ein großer Erfolg der Kommu-nisten, eine vernichtende Niederlage für die Sozialdemokraten. Deren kleiner Koalitionspartner, die Freiheitsunion (US-DEU), wurde endgültig ins politische Aus geschickt und zugleich abgelöst von einer Gruppierung, die sich Vereinigung der Unabhängigen – Europäische Demokraten (SNK-DEU) nennt. In ihrer Ausrichtung ist diese noch nebulöser und unbestimmter als die Freiheitsunion. Deshalb drängt sich die berechtigte Frage auf, wie lange der Erfolg dieser Gruppierung anhalten wird. Nicht verfehlt ist wohl die Annahme, dass auch diese Vereinigung die gleiche ballistische Kurve beschreiben wird, die schon viele vor ihr in Tschechien genommen haben – zuletzt die Freiheitsunion. Spannend wird nur, auf welchem Punkt der Kurve sie sich bei den nächsten Parlamentswahlen befinden wird.

Sicher: Die Wahlergebnisse werden relativiert durch die verschwindend geringe Wahlbeteiligung. Trotzdem lassen sich Grundtendenzen ablesen. Sie sagen mehr über den Zustand der politischen Szene in Tschechien aus als über die Erwartungen der tschechischen Wähler an Straßburg und Brüssel. Die Vorstellung, die tschechischen Kandidaten werden im Europäischen Parlament die „tschechischen nationalen Interessen“ vertreten, ist abwegig. Denn einig sind sie sich nur in einem Punkt, nämlich der gegenseitigen Ablehnung. Und zudem ist das auch nicht ihre Aufgabe. Sie sollen sich übernationalen Fraktionen anschließen und für ein geeintes Europa arbeiten. Das Absurde an der Situation ist allerdings, dass dazu die stärksten Gruppierungen aus Tschechien gar keine Ambitionen haben. Aber hier spiegelt sich ein gesamteuropäisches Problem wieder. Dem Europäischen Parlament fehlt der Staat. Seinen Sinn und seine Form zu erfassen, muss jedem normalen Wähler schwer fallen.

In Tschechien kommt noch erschwerend hinzu, dass ein Europa-Mandat als vorteilhaftes Plätzchen im Ausland für jene Politiker verstanden wird, die entweder kein Interesse mehr an der innenpolitischen Szene haben oder kurz vor dem Ausscheiden aus der Politik aus Altersgründen stehen. Andere sehen darin ein Nobel-Exil für unbequeme politische Konkurrenten. Und einige verwechseln die Rolle des Mandats mit der, die der Altar im Mittelalter für Vogelfreie hatte. So umklammert der ehemalige Fernsehchef Vladimír Železný die Beine seines Abgeordnetensessels in Straßburg in der Hoffnung, für die nächsten fünf Jahre vor jedem richterlichem Zugriff in Sicherheit zu sein.

Kurz vor dem Urnengang hat sich Ex-Präsident Václav Havel ins Geschehen eingeschaltet und Vertreter der kleinen Parteien empfangen. Möglicherweise hat er damit der Vereinigung der Unabhängigen – Europäische Demokraten (SNK-DEU) geholfen. Doch messen lässt sich das kaum, denn den Grünen und der Freiheitsunion hat die Audienz nichts gebracht. Und der mit Havels Symphatie gesegnete Daniel Kroupa erhielt ganze drei Prozent.

Der Abgeordnete Jiří Karas, der für die gleiche Partei, nämlich die christlich-demokratische Volkspartei kandidierte und in der Öffentlichkeit als Erzengel Gabriel auftritt, der aus dem politischen Paradies die Befürworter der Abtreibung und der Legalisierung weicher Drogen vertreibt, konnte knapp zehn Prozent abschöpfen. Und da lassen wir schon die absolute Rekordfrau aus. Jana Bobošíková konnte auf der Liste der Unabhängigen 52 Prozent einheimsen – ohne Unterstützung Havels, versteht sich.

Und noch ein Wort zu Regierungschef Vladimír Špidla. Er bestätigte neuerlich, dass er die tragische Figur der tschechischen Politik ist. Nach einem kurzen Zögern erklärte er entschieden, nicht zurücktreten zu wollen. Nun, seine Rolle ähnelt der des Kanoniers Jabùrek in dem bekannten Volkslied über die Schlacht bei Königgrätz. Allein, nur mit seiner Kanone hielt dieser Tapfere dem Ansturm der preußischen Feinde stand.

Die Wahlen vom vergangenen Wochenende sollten in ihrer Bedeutung nicht überbewertet werden. Tschechien ist wieder einen Schritt näher an das Zwei-Parteien-System gerückt: der Bürgerlichen Demokratischen Partei und der Kommunistischen Partei. Nur: In einem Zwei-Parteien-Sys-tem lösen sich die beiden Parteien an der Regierung regelmäßig ab. In Tschechien würde das wohl nur einmal passieren.

Prager Zeitung 17. Juni 2004